Schwaben-Herbst
Ähnlichkeit mit dem Toten. Den Blick voller Konzentration auf das Schachbrett vor sich gerichtet, schien der Porträtierte nichts um sich herum wahrzunehmen. Einzig die Partie um die Nase kam ihr bekannt vor.
Sie las die Überschrift, überlegte, dass es sich bei dem Toten wohl wirklich um ein kleines Schachgenie handelte. Andreas Sattler Sieger beim Stuttgarter Schachturnier.
Dem kurzen Text zufolge hatte der 25-jährige Reutlinger überraschend alle anderen Teilnehmer, auch seinen favorisierten Kameraden Lukas Feiner und einen russischen Großmeister, besiegt. »Das ist der pure Wahnsinn«, brachte der Artikel das Urteil des überglücklichen Siegers zum Ausdruck, »ich kann es noch gar nicht fassen.«
Neundorf betrachtete die in Falten gelegte Denkerstirn auf dem Foto, hörte die voller Stolz und Bewunderung gesprochenen Worte ihrer Gastgeberin.
»Ja, das ist unser Andreas. Ein Schach-Genie. Bald ist er in ganz Deutschland bekannt. Das sagen alle.« Helga Gerber stand mit strahlender Miene vor ihr, den Blick starr auf den Zeitungsausschnitt gerichtet. Sie hatte den Bezug zur Realität offenkundig völlig verloren.
»Dieser Lukas Feiner«, sagte die Kommissarin, »haben Sie seine Adresse?«
»Lukas?« Ihr Gegenüber rümpfte die Nase. »Nein. Weißt du, wo Lukas wohnt, Julia?«
Die junge Frau hatte Mühe, zu verstehen. Sie fuhr sich mit beiden Händen über ihr tränenbenetztes Gesicht, schaute dann mit müdem Blick zu ihrer Mutter auf. Helga Gerber nahm einen letzten Zug von der Zigarette, drückte sie dann im Aschenbecher auf dem Tisch aus.
»Andreas?«, hauchte ihre Tochter.
»Lukas.«
Die Stirn der jungen Frau legte sich für einen Moment in Falten. »Sie haben Streit.«
»Wer hat Streit?«, fragte Neundorf.
»Andreas und Lukas«, erklärte Helga Gerber mit kräftiger Stimme. »Ein widerlicher Kerl. Er will Geld von Andreas.«
»Weshalb?«
»Sein Auto hatte einen Totalschaden.«
»Na und? Was hat das mit Andreas Sattler zu tun?«
»Der Kerl behauptet, Andreas habe es gefahren.«
»Das ist doch Sache der Versicherung.«
»Normalerweise schon.«
»Aber?«
Helga Gerber griff erneut nach ihrer Zigarettenschachtel. »Dieser Lukas …« Sie nahm eine Zigarette, steckte sie an, warf die Packung und das Feuerzeug auf den Tisch. »Der Kerl ist mir nicht ganz geheuer«, erklärte sie dann, eine große Rauchwolke zur Seite blasend.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Na ja«, antwortete die Frau zögernd, »der hat doch mit allen Streit.«
Neundorf gab sich nicht zufrieden. Nur ein Blinder konnte übersehen, dass Helga Gerber sich vor einer konkreten Antwort drücken wollte. »Das müssen Sie mir genauer erklären. Andreas wurde ermordet, da will ich schon wissen, um was es bei diesem Streit ging.«
»Mein Gott, Sie glauben doch nicht etwa …«
»Was soll ich glauben?«
»Na, dass der Kerl Andreas …« Helga Gerber brach mitten im Satz ab, nahm einen tiefen Lungenzug, starrte die Kommissarin an.
Neundorf ließ sich nicht beirren. »Um was ging es bei dem Streit?«
»Der verlangt Geld von Andreas.«
»Wie viel?«
»Ziemlich viel.«
»Was heißt das genau?«
Die Frau schwieg, konzentrierte sich ganz auf ihre Zigarette. Laut schmatzend sog sie an dem Glimmstängel, blies den Rauch dann langsam von sich. »Ich kann es nicht fassen«, brummte sie.
»Wie viel?«
»An die Zehntausend, wenn ich richtig informiert bin.«
Neundorf pfiff durch die Zähne, streckte den Kopf zur Seite, versuchte, der Rauchwolke auszuweichen. »Zehntausend. Das klingt nicht schlecht. Aber Herr Sattler, ich meine, Andreas, war nicht bereit, das Geld zu zahlen?«
»Natürlich nicht«, mischte sich Julia Gerber unverhofft ins Gespräch. Ihre Stimme klang schwach und zerbrechlich, sie hatte Mühe, die Worte zu formulieren. »Lukas war doch selbst schuld, dass es zu dem Totalschaden kam.«
»Wieso?«
»Sie fuhren eine Abkürzung, weil Lukas es so wollte. Einen schlecht ausgebauten und für den Durchgangsverkehr eigentlich gesperrten Feldweg, um genau zu sein. Er ließ Andreas fahren, weil er selbst getrunken hatte und drängte ihn dann, den Feldweg zu nehmen. Dabei passierte es. Sie fuhren in eine Grube. Die Versicherung zahlt nichts. Und jetzt versucht er, es Andreas in die Schuhe zu schieben.«
»Woher wissen Sie das?«
»Andreas«, hauchte Julia Gerber. Ihre Stimme war kaum mehr zu hören. »Er hat es mir erzählt.«
»Wann war das?«
»Vorgestern. Am Donnerstagabend«, übernahm Helga Gerber die Erklärung.
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