Schwaben-Herbst
»Julia war gerade bei uns, als Andreas anrief, deshalb bekam ich alles mit. Er fühlte sich von Lukas bedroht und wollte Julia vor dem Kerl warnen. Der ist völlig durch den Wind, berichtete er, der hing gerade eine halbe Stunde am Telefon und drohte mir Hölle, Tod und Teufel an, wenn er das Geld nicht binnen vierundzwanzig Stunden habe. Julia solle auf sich aufpassen und sich ja nicht mit dem Kerl einlassen, wenn er hier auftauche.«
Neundorf starrte die Frau überrascht an. »Das war vorgestern, am Donnerstagabend?« Blaue Schwaden hingen vor ihr in der Luft.
»Fragen Sie Julia, die wird es Ihnen bestätigen.«
Die Kommissarin wandte den Kopf, brauchte nicht lange auf eine Erklärung zu warten.
»Freitagabend um zehn«, sagte Julia Gerber, »zu dem Zeitpunkt wollte er das Geld endgültig haben.« Sie fuhr sich mit der Rechten übers Gesicht. »Sonst könne er für nichts garantieren.«
Neundorf war ohne jede weitere Überlegung klar, was das bedeutete. »Die Adresse von diesem Feiner«, sagte sie, »ich benötige sie. Jetzt sofort.«
7.
Das Plazet, die am frühen Morgen in Ossweil überfallene und misshandelte Frau sprechen zu können, war Steffen Braig kurz nach 15 Uhr an diesem Samstag vom leitenden Stationsarzt persönlich erteilt worden.
»Natürlich wäre es mir lieber, meine Patientin noch möglichst lange vor allzu zudringlichen Fragen verschont zu sehen«, hatte Dr. Raimund Willer bei seinem Anruf erklärt, »weil ich aber mit der Zunft Ihrer Kollegen oft genug zu tun hatte, bin ich mir bewusst, wie sehr es Ihnen auf den Nägeln brennt, Frau Reisch endlich interviewen zu können.«
Braig hatte sich bei dem Arzt bedankt und ihm zugesichert, die besondere Situation des Überfall-Opfers im Auge zu behalten und die Frau nicht länger als fünfzehn Minuten mit seinen Fragen zu belästigen, war dann auf dem kürzesten Weg ins Ludwigsburger Klinikum gefahren. Ob es sich lohnte, des Gesprächs wegen den Rest des Samstagmittags zu opfern, wusste er nicht zu sagen; die Tatsache, dass seine Lebensgefährtin heute Morgen mit ihrer Schwester in den Schwäbischen Wald aufgebrochen war, um gemeinsam mit deren Konfirmanden dort das Wochenende zu verbringen, erleichterte ihm auf jeden Fall die Entscheidung. Theresa Räuber stand seit über einem Jahr als angehende Pfarrerin im Dienst der Württembergischen Landeskirche, betreute eine Gemeinde am Rand des Stuttgarter Zentrums. Vor mehreren Wochen schon hatte sie ihrer Schwester und Braig vorgeschlagen, sie zum Herbstbeginn auf ihrer Konfirmandenfreizeit zu begleiten.
»Sechselberg liegt in einer reizvollen waldreichen Umgebung«, hatte sie das als Übernachtungsort ausgewählte Naturfreundehaus vorgestellt, »eine ideale Gegend für Spiele im Freien, eine Schnitzeljagd, dazu eine Nachtwanderung durch Wälder und Schluchten. Ihr könnt kräftig durchatmen, den ganzen Ballast des Alltags vergessen. Und die Mädels und Jungs bringen euch garantiert auf andere Gedanken.«
Ann-Katrin Räuber hatte ohne lange Überlegung zugesagt, sich diesen Samstag und Sonntag rechtzeitig vom Dienst befreien und in die Vorbereitungen ihrer Schwester mit einbeziehen lassen. Braig dagegen war sich spätestens nach dem zweiten brutalen Wochenend-Überfall vor acht Tagen über seine berufliche Unabkömmlichkeit zu dieser Zeit im Klaren – es sei denn, es wäre ihnen gelungen, den Täter schnell zu identifizieren und festzunehmen. Der Erfolg war nicht nur ausgeblieben, vielmehr ein weiteres Verbrechen geschehen, das die Handschrift desselben Mannes offenbarte – Braig wusste, wie abwegig es war, in naher Zukunft auf einen dienstfreien Tag zu spekulieren.
Er seufzte laut auf, als er den Eingang des Ludwigsburger Klinikums erreichte, nahm den Weg zu den Fahrstühlen, suchte nach der Abteilung, die ihm Dr. Willer avisiert hatte. Eine Gruppe in lange Gewänder gekleideter und mit dunklen Kopftüchern verhüllter Frauen kam ihm in Begleitung mehrerer vollbärtiger und auffällig grimmig dreinblickender Männer entgegen. Alle schwiegen, nicht ein einziger gab einen Ton von sich.
Braig wandte den Kopf, verfolgte die mit gedämpften Schritten fast lautlos zum Ausgang trottende Gruppe mit seinem Blick. So fremd ihm die Leute waren, ihr Verhalten sprach Bände, über alle Grenzen hinweg. Weshalb auch immer sie sich hier getroffen hatten – der Anlass war nicht erfreulich, die in einem der oberen Stockwerke von einer Ärztin oder einem Arzt erhaltene Hiobsbotschaft in ihren Mienen, ja ihrer
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