Schwaben-Herbst
Ob er wollte oder nicht, eine Antwort drängte sich ihm immer stärker auf: Weil es diese Frau gar nicht gab, sie nur in der Fantasie des aufgeregten Mannes im hellen Anzug existierte?
Er wandte sich Bareiss zu, betrachtete ihn stillschweigend. Ein Zeuge, der es auffallend wichtig hatte. Sehr wichtig sogar. Fährt kurz nach Mitternacht zufällig hier vorbei und sieht, wie die Frau attackiert wird. Von einem Mann mit einem Metallstab. In der Nacht von Freitag auf Samstag, so wie an mehreren Wochenenden zuvor auch schon. Er sieht den Überfall, stoppt seinen Wagen und eilt der Frau zu Hilfe. Sofort. Ohne jede Überlegung. Er, der nicht gerade muskulös wirkende Mann im feinen hellen Anzug. Wie mutig! Welch heldenhafter Einsatz!
Er treibt den Täter in die Flucht, jagt ihn weg, verfolgt ihn. Das Fluchtfahrzeug – ein dicker Daimler. Er verliert ihn aus den Augen, erkennt nur das S, kehrt an den angeblichen Tatort zurück. Nach wenigen Minuten. Doch die Frau ist nicht mehr da. Das angebliche Opfer spurlos verschwunden.
Weil sie nur in seiner Fantasie existierte? Weil er sich – wenigstens einmal im Leben – wichtig machen, als bedeutende Persönlichkeit vorstellen wollte? Warum war der Mann so aufgeregt, was wollte er mit seinen großen Worten? Die Aufmerksamkeit der Ermittler, der Journalisten, der Öffentlichkeit erregen? Band er ihm deshalb einen Bären auf, eine spannende, allein seinem Gehirn entsprungene Geschichte?
»Dort vorne ist Blut.«
Braig hörte die Stimme der uniformierten Beamtin, schaute auf. Sie stand wenige Meter von ihm entfernt, wies auf den Boden, winkte ihn zu sich her. »Blut«, fuhr sie ungefragt fort, »wir glauben es zumindest.«
»Es sieht wirklich danach aus«, ergänzte ihr Kollege, »wir haben die Stelle vorhin mit Taschenlampen untersucht.«
Hatten sie seine Zweifel bemerkt? Er folgte ihrem Hinweis, kniete sich nieder, leuchtete das Pflaster mit der Lampe der Kollegin aus. Zwei rotbraune Flecken mitten auf dem Weg. Auch wenn das Licht nicht optimal war, musste er nicht lange überlegen. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, wie Blutflecken aussahen. Dann handelte es sich also doch nicht um die Fantasie eines gelangweilten Mannes?
»Ich kenne die Frau«, meldete sich Bareiss plötzlich wieder zu Wort.
Braig sprang hoch, starrte dem Mann ins Gesicht.
»Wie – Sie kennen die Frau?«
Bareiss holte tief Luft. »Also, ich kann Ihnen jetzt nicht ihren Namen und ihre Anschrift mitteilen, aber ich habe sie schon gesehen. Ein-, zweimal, vielleicht auch öfter. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Menschen, ob Sie es mir glauben oder nicht. Die Frau wohnt wahrscheinlich irgendwo in der Nähe, deshalb. Ich kenne sie. Garantiert.«
»Die Frau, die hier«, angeblich hatte er sagen wollen, das Wort dann gerade noch unterdrückt, »überfallen wurde? Und Sie haben keinen Zweifel?«
Bareiss zog seine Krawatte zurecht, wischte sich über seine Jacke. Er schien trotz des kalten Windes, der Schmutz und Blätter durch die Luft wirbelte, nicht zu frieren. »Ich habe einen Blick für Gesichter«, sagte er, »ob Sie es mir glauben oder nicht. Und ich habe die Frau schon gesehen. Mehrmals.«
Braig nickte, zog sein Handy aus der Tasche. Auch wenn er immer noch skeptisch war, durfte er sich den notwendigen Untersuchungen nicht länger verschließen. »Sie fühlen sich imstande, ein Phantombild der Frau zu erstellen? Und – wenigstens in Ansätzen – auch das des Täters? Unsere Fachleute werden Ihnen helfen. Die wissen genau, worauf es ankommt.«
Bareiss zögerte keine Sekunde. »Das ist kein Problem. Ich kann Ihnen die Frau beschreiben. Aber den Täter? Wir können es versuchen. Aber versprechen Sie sich davon nicht zuviel!«
10.
Wenige Minuten nach Neun am Samstagmorgen hatte Neundorf das Haus am Ortsrand Rottenburgs erreicht.
Es handelte sich um ein modernes, zwei Stockwerke umfassendes Gebäude mit hohen, breiten Fenstern und spitzgiebligem Dach, von dichtem Buschwerk und einem niedrigen, dunkelbraun gestrichenen Holzzaun umgeben. Die Kommissarin überprüfte das Namensschild, läutete an der Klingel. Astrid und Martin Grauselmaier.
Sie hatte in der Nacht mehrfach vergeblich versucht, die Familie des ermordeten Politikers telefonisch zu erreichen, war gegen vier Uhr schließlich nach Hause gefahren, hatte sich drei Stunden Schlaf gegönnt. Erst am Morgen war es ihr gelungen, Astrid Grauselmaier zu sprechen. Sie hatte darauf verzichtet, die verschlafen klingende Frau fernmündlich über
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