Schwaben-Messe
immer wieder, »oh mein Gott.« Er stand auf, legte das Foto auf den Tisch, lief zum Fenster.
Braig wartete, ließ den Mann Luft holen. Es ist die Erinnerung an unser eigenes Ende, hatte ihm Vera Sommer, die junge Pfarrerin einmal gesagt, wir spüren beim Anblick eines Toten impulsiv, dass es mit uns in jeder, wirklich jeder Sekunde unseres Lebens genauso weit sein kann. Darin sind wir alle gleich. So sehr wir fast das ganze Leben darum kämpfen, uns vor den anderen zu unterscheiden, etwas Besseres als sie zu sein, so schnell sind alle Bemühungen dahin, wenn wir erst einmal so da liegen wie die Toten. Deshalb bedrückt es uns so. Jeden von uns.
Josef Heger stand mit Tränen in den Augen am Fenster, blickte auf die Straße. Braig erhob sich, legte dem Mann den Arm auf die Schulter, wartete schweigend auf eine Reaktion. Draußen fuhren einzelne Autos vorbei, die meisten stadteinwärts, die leicht geneigte Straße ins Tal. Die Sonne stand hoch am Himmel, kleine Wolkenfelder zogen schnell vorüber. Braig schaute auf seine Uhr, sah, dass es kurz vor Zwölf war. Der halbe Sonntag vorbei und noch nichts erreicht. Oder doch?
»Er ist es«, stieß Josef Heger hervor, »auch wenn nicht mehr viel von ihm übrig ist. Die Nase. Seine Nase …« Er verstummte, ließ sich auf sein Sofa sinken.
Braig schwieg, nahm das Foto wieder an sich. Auf der Straße klingelte ein Fahrrad, Kinderstimmen riefen einander provozierende Sprüche zu. Plötzlich quietschten die Bremsen eines Autos, ein sattes Knallen folgte unmittelbar. Schreie wurden laut, Hupen, keifendes Schimpfen.
»Sie sind sich sicher?«
Heger nickte mit dem Kopf.
Braig sah die beiden Fahrzeuge, die an der Straßenkreuzung wenige Meter unterhalb von ihnen ineinander geknallt waren. Ein total verbeulter Audi, auf seiner Beifahrerseite ein dicker Geländewagen. Ringsum die gewohnte schreiende und gaffende Menschenmeute. Wo sie so schnell hergekommen waren?
Er rief das örtliche Polizeirevier an, gab Bescheid. Die Kollegen versprachen, sich um den Unfall zu kümmern.
Josef Heger saß auf seinem Sofa, interessierte sich nicht für das Gekreische auf der Straße. »Wer tut so was?« stammelte er. »Wer ist zu so was fähig?«
Braig sah, wie dem Mann die Tränen über die Wangen liefen.
»Der Kerl war doch noch so jung.«
Er konnte ihm nicht helfen, musste ihm Zeit lassen, mit seinem Schmerz fertig zu werden. Eine dermaßen entstellte, von ihrem Mörder so grauenvoll zugerichtete Leiche zu betrachten, fiel schon Braig als Kriminalbeamtem nicht leicht. Welche Schmerzen musste man erst empfinden, wenn man das Opfer näher kannte, fast jeden Tag mit ihm zusammentraf, gemeinsam feierte, Sportveranstaltungen verfolgte, Fernsehabende gestaltete?
Josef Heger war auf seinem Sofa zusammengesunken, starrte auf einen imaginären Punkt auf dem Boden. Braig nahm die Telefonnummern, die er sich vor wenigen Minuten notiert hatte, erhob sich, lief behutsam zur Tür, dann in die Diele. Er zückte sein Handy, rief beim Arbeitskollegen Jonas Altmaiers an. Eine piepsige Kinderstimme meldete sich. Braig verlangte nach dem Vater oder der Mutter, hatte die Frau kurz darauf am Apparat. Er stellte sich vor, fragte, ob er ihren Mann sprechen könne. Sie zögerte, bat dann, einen Moment zu warten.
Braig lehnte sich an die Haustür, hörte das leise Weinen im Wohnzimmer. Plötzlich lärmten zwei kräftige Stimmen am anderen Ende der Leitung. Eine Frau, offensichtlich die, mit der er gerade gesprochen hatte, beschimpfte einen Mann mit derben Ausdrücken, beschuldigte ihn, die Gesetze schon wieder gebrochen zu haben. Der Mann schrie zurück. Braig horchte auf, glaubte, Schläge zu hören. Er musste den LKA-Computer nach dem Mann und dessen Vergangenheit überprüfen.
»Hessle«, meldete der heftig Angegriffene sich schließlich, eine schimpfende Frauenstimme im Hintergrund, »um was geht es?«
»Sie können es sich nicht denken?«
»Nein. Was soll das? Wer sind Sie überhaupt?«
Braig stellte sich vor, wartete auf eine Reaktion.
»Ich habe nichts damit zu tun.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Ist mir egal, es war nicht meine Idee.«
Er musste tricksen, um den Mann aus der Reserve zu locken. »Sie wissen, dass wir heute mit den modernsten Methoden arbeiten. Ihre Fingerabdrücke. Sie haben keine Chance. Außerdem fanden wir Speichelreste. Eindeutig von Ihnen. Herr Hessle, alles ist klar. Streiten Sie es nicht länger ab.«
Die Stille währte keine fünf Sekunden. Dann hörte Braig das
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