Schwaben-Messe
der Lösung wohl ein Stück näher gekommen war. Er beschloss, der Frau den Anblick der völlig entstellten Leiche zu ersparen, ließ das Foto in seiner Tasche.
»Sie haben den Nachbarn von Jonas angerufen, damit der bei ihm läutet. Kennt der Ihren Sohn näher?«
»Herr Heger? Ja, der kümmert sich sehr um Jonas. Die kennen sich gut. Er war sogar schon bei mir, hat mich besucht.«
Er ließ sich die Nummer des Mannes geben, rief ihn an, erklärte, um was es ging, verabredete sich zu einem Besuch in einer knappen Stunde.
»Es tut mir sehr leid mit Ihrem Jonas«, verabschiedete er sich von Frau Altmaier, »ein Kollege von mir wird Ihnen die Messstreifen bald bringen.«
Die Frau hatte trotz ihrer Sorgen den Ernst der Lage offensichtlich noch nicht erkannt. Braig musste versuchen, den Nachbarn des Toten zu einer Identifizierung der Leiche zu überreden.
Erst als er in der Wohnungstür stand, kam die Frage.
»Ist meinem Jonas was Schlimmes passiert?«
Er wusste nicht, was er antworten, ob er die alte Frau mit der wahrscheinlichen Realität konfrontieren sollte. Konnte er sagen: Noch wissen wir es nicht, noch ist er nicht identifiziert? Er war schon auf der Treppe, einige Stufen abwärts, als er zu einer vorsichtigen Formulierung fand. »Ich glaube schon, sonst hätte er Ihnen doch die Streifen gebracht.«
Ihr bleiches Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen und dem Muskel darunter, der unaufhörlich zuckte, war das Letzte, das er von ihr sah, als er langsam die Stufen hinabstieg. Er hatte Angst davor, mit der Frau über den Tod ihres Sohnes zu sprechen, schützte die Ungewissheit darüber, ob er es wirklich sei, vor, um sich selbst zu beruhigen. Todesnachrichten oder ähnliche Hiobsbotschaften zu überbringen, lag ihm nicht.
Seit er vor einigen Jahren in Lauberg, einem Vorort von Backnang, auf eine junge Pfarrerin getroffen war, hatte er deren Beruf schätzen und achten gelernt. Seither bemühte er sich um die Begleitung eines Pfarrers, manchmal auch des untersuchenden Arztes, wenn er Angehörigen solch traurige Botschaft übermitteln musste.
Braig hatte die Wohnung in der Bahnhofstraße in Waiblingen schnell gefunden. Er war mit einem Regionalexpress von Ludwigsburg nach Stuttgart gefahren, dann dort in die S-Bahn umgestiegen.
Mit dem Schlüssel, den Braig sich von Frau Altmaier geliehen hatte, öffnete er die Tür, schaute sich in den geräumigen Zimmern um. Alles war ordentlich aufgeräumt und sauber, der junge Mann hatte penibel auf einen gepflegten Zustand der Wohnung geachtet. Von der Diele her fand er rechts die kleine Küche mit einer hellen Einbauzeile und einem winzigen Esstisch, daneben – mit einem offenen Übergang – das gemütliche Wohnzimmer mit einer breiten, weichen Bettcouch ohne Rückenlehne, einem wuchtigen, aus einem mächtigen Baumstamm geformten Tisch und einem dunklen Schrank. Im Eck ein wertvoller schmiedeeiserner Holzofen mit einer von dickem Glas geschützten, einsehbaren Brennkammer. Ein großer brauner Korb unter dem Kamin enthielt mehrere Scheite Holz.
An der Wand über der breiten Couch hingen mehrere gerahmte Bleistiftzeichnungen, unverkennbar im Stil der Grafik, die Braig bei Altmaiers Mutter bewundert hatte. Der Mann hatte Talent gehabt, erkannte der Kommissar, kein Wunder, dass er alles getan hatte, um seine Hände zu schützen.
Braig überflog die anderen Darstellungen, schaute sich in der Wohnung um. Er sah, dass alles ordentlich auf seinem Platz stand, das gespülte Geschirr in der Küche, die Bücher im Wohnzimmerschrank, die CDs direkt daneben. Keinerlei Anzeichen, dass sich hier Fremde zu schaffen gemacht hatten.
Er kam durch eine Rundbogenöffnung in die Diele, fand auf der anderen Seite Toilette und Bad sowie das Schlafzimmer, alles in bester Ordnung. Braig ließ sich Zeit, schaute sich alles in Ruhe an. Hier war auch nicht der geringste Hinweis dafür zu finden, dass der Mieter der Wohnung einem Mord zum Opfer gefallen sein sollte.
Er verließ die Räume, verschloss die Tür, läutete beim Nachbarn. Josef Heger öffnete sofort, hatte offensichtlich auf ihn gewartet. Er war Anfang sechzig, Frührentner, lebte seit vier Jahren Wand an Wand mit Jonas Altmaier.
»Ein netter junger Mann«, meinte Josef Heger.
Er hatte Steffen Braig in sein Wohnzimmer gebeten, das zwei kräftig rote Sofas im IKEA-Stil beherbergte, einen kleinen Tisch, einen Schrank mit Büchern und Geschirr hinter Glas und ein großes Fernsehgerät. Unter dem Tisch standen mehrere Flaschen
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