Schwaben-Sumpf
Wesen, dünn und zerbrechlich, mit zitternden Lippen, unstetig hin und her huschenden Augen, einer brennenden Zigarette in der Hand. Sie hätte sie kaum mehr wiedererkannt, draußen auf der Straße, eine unter vielen, sie schien um Jahre gealtert, ohne jede Selbstachtung, eine ängstliche Person aus einer anderen Welt. War es ein Wunder, nach dem, was geschehen war?
Neundorf hatte ihr die Hand entgegengestreckt, die flüchtige Berührung kaum wahrgenommen, war dann mit beiden Frauen ins nebenan gelegene Wohnzimmer gewechselt.
Kann ich ihr das wirklich antun, arbeitete es in ihr, muss ich, darf ich es ihr sagen?
Sie betrachtete das nervöse Spiel der Frau, wie sie einen Lungenzug nach dem anderen nahm, den Rauch ausstieß, die Asche abklopfte, eine neue Zigarette ansteckte, wagte nicht, ein Wort zu sagen.
Catherine Heimpold starrte auf die Glut ihrer Zigarette, hielt einen Moment die Luft an, warf der Besucherin einen flüchtigen Blick zu. »Sie kommen wegen der Kette?«, hauchte sie dann.
»Welche Kette?«, fragte Neundorf überrascht. Sie schaute hilfesuchend zu Christa Kastner, sah, wie die Frau sich erhob und zu dem breiten Schrank lief.
»Jessicas Kette«, erklärte die Ältere, machte sich an einer Schublade zu schaffen, zog ein Foto vor, reichte es der Besucherin.
Die Kommissarin betrachtete das filigran gearbeitete Kunstwerk, eine hauchdünne Kette aus Weißgold mit einem kleinen, mit einem funkelnden Diamanten besetzten Herz, auf dem die eingravierten Buchstaben sauber zu erkennen waren: Jessica.
»Ich habe sie ihr geschenkt«, sagte Christa Kastner, »vor drei Monaten zu ihrem siebzehnten Geburtstag.«
»Sie ist sehr schön. Sie hat sie sicher gern getragen?«
»Jeden Tag. Sie ging ohne ihre Kette nicht aus dem Haus.«
»Wo ist sie?«
»Weg«, sagte Catherine Heimpold, eine frisch angesteckte Zigarette zwischen den Fingern, »verschwunden.«
Neundorf begriff sofort, was das bedeutete. »Sie trug sie jeden Tag?«
»Immer«, antwortete Christa Kastner, »wir waren gemeinsam beim Juwelier. Sie durfte sie selbst aussuchen. Catherine bestätigte mir, dass sie sie immer trug.«
»Auch am Freitag?« Neundorf sah die flackernden Augen Catherine Heimpolds, wusste, was sie ihr mit dieser Frage zumutete.
»Auch am Freitag«, bestätigte die Ältere. Sie streckte ihre Hand aus, legte sie ihrer Tochter tröstend auf den Oberarm. »Wir haben darüber gesprochen, verstehen Sie. Sie muss sie getragen haben.«
»Das Foto. Kann ich es mitnehmen? Sie erhalten es zurück.«
»Natürlich. Sie haben die Kette nicht gefunden?«
»Nein. Ich nehme an, sie ist sehr wertvoll.«
Christa Kastner nickte wortlos.
Etliche Tausender, überlegte Neundorf. Lag dem Verbrechen also tatsächlich ein anderes Motiv zugrunde, als sie bisher vermutet hatten? Erschienen so die unablässigen Unschuldsbeteuerungen der verhafteten Brüder in einem neuen Licht? Sie mussten deren Wohnung noch einmal gründlich überprüfen, zudem das Foto der Kette an die Medien weiterreichen. Vielleicht gab es Hinweise, die auf neue Spuren führten. Zumal der Tod Jessica Heimpolds nach dem Verbrechen heute Nacht ohnehin in einem anderen Licht erschien.
»Es könnte sinnvoll sein, das Foto der Presse zu übergeben«, sagte sie, wartete dann einen Moment, bevor sie das Gespräch auf den Punkt brachte, dessentwegen sie eigentlich nach Esslingen gefahren war. »Aber ich bin nicht wegen der Kette gekommen.«
»Nein?« Christa Kastner betrachtete sie verwundert.
»Nein. Ich muss Ihnen etwas mitteilen.«
»Sie haben Neuigkeiten?«
»Leider. Ich nehme an, Ihre Tochter kann heute bei Ihnen bleiben?«
»Aber ja. In ihrer jetzigen Verfassung ist das besser für sie. Deshalb habe ich sie nach der Beerdigung zu mir geholt, ich sagte es Ihnen bereits.«
»Sie waren heute Nacht mit ihr zusammen?«
»Ja, natürlich. Ich erwähnte es doch gerade.«
»Hier in der Wohnung? Die ganze Zeit?«
»Wo denn sonst? Glauben Sie, ihr ist nach Ausgehen zumute?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich wollte mich nur vergewissern.«
»Ja, dann wissen Sie es jetzt. Was wollen Sie uns mitteilen?«
»Es geht um Robert Heimpold, Ihren Schwiegersohn.«
»Was ist mit ihm? Benötigen Sie seine Handynummer?«
»Nein«, antwortete Neundorf, »die bringt uns nicht mehr weiter. Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Robert Heimpold ist tot.« Sie behielt die Frau im Auge, sah, wie diese zusammenfuhr, ihren Kopf dann aggressiv nach vorne warf und mit stechendem Blick
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