Schwaben-Wahn
geschütztes Atrium. Er betrat die belebte Halle, wunderte sich über die freundliche, keineswegs Krankenhaustypische Atmosphäre, die hier herrschte. Die Stühle waren mit Besuchern und Patienten besetzt, die einen an ihrer Straßenkleidung, die anderen an Hausmänteln und dicken Verbänden zu erkennen.
Braig folgte einer breiten Treppe nach oben, sah das Schild, das den Weg zu der angegebenen Station wies. Er lief einen Gang entlang, durchschritt zwei weitere Türen, hatte den gesuchten Bau erreicht.
Intensivstation
. Schon der Name ließ Schlimmes erahnen. Mehrere helle Stühle standen aufgereiht an der Wand, eine mannshohe Pflanze daneben. Er trat zu der kleinen Kabine, hinter der eine Schwester mehrere Monitore überwachte, stellte sich vor, fragte nach Ann-Katrins Mutter.
»Irene Räuber liegt hier«, bestätigte die Frau, »aber Sie können nicht zu ihr. Sie ist bewusstlos.«
»Immer noch?«
»Wir können nichts machen. Frau Räuber brach auf der Straße zusammen. Herzstillstand. Sie wurde zwar wiederbelebt, aber …« Sie zuckte hilflos mit der Schulter.
»Herzstillstand?« Braig starrte die Krankenschwester ungläubig an. »Auf der Straße?«
»Das sind die Informationen, die ich habe. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Und jetzt?«
»Sie erhält Infusionen. Mehr können wir nicht tun.«
19. Kapitel
Womit es zu tun hatte, dass er in dieser Nacht nur selten zum Schlaf kam – Braig wusste es nicht. Er fühlte sich von einer inneren Unruhe getrieben, fand kein Mittel, ihr zu entrinnen, sah sich alle paar Minuten aufs Neue in die Realität zurückgeholt. Lag es am nach wie vor Besorgnis erregenden Zustand Irene Räubers, an der daraus resultierenden Niedergeschlagenheit Ann-Katrins, an den unbefriedigenden Fortschritten seiner beruflichen Ermittlungen? Oder handelte es sich um eine jener vom schroffen Wetterwechsel torpedierten Nächte, in denen die von seelischen Zerwürfnissen in Mitleidenschaft gezogene Psyche die Nerven zusätzlich strapazierte?
Braig kam zu keiner Antwort, fand auch in der Beobachtung keinen Trost, dass es Ann-Katrin offensichtlich nur wenig besser ergangen war. Er hatte sie erst kurz nach achtzehn Uhr am vergangenen Abend erreicht, nachdem er das Krankenhaus verlassen und im
Grill-Point
im Hauptbahnhof eingekehrt war, die erste warme Mahlzeit des Tages vor sich. Sie hatte ihr Handy in der Hektik der Ereignisse in Backnang in ihrem Dienstwagen vergessen, war im Gewühl Tausender von Menschen, die für den Erhalt ihrer Klinik protestierten, nicht mehr zu dem Fahrzeug zurückgekommen. Er hatte sich ihren angesichts des großen Engagements und des absolut friedlichen Verhaltens der Demonstranten unverhohlen von Faszination geprägten Bericht geduldig angehört, war dann vorsichtig auf den Kollaps ihrer Mutter eingegangen. So überraschend und schockierend der Vorfall war, sie hatte gefasst reagiert und Braig das Versprechen abgenommen, vor der Intensivstation auf sie zu warten. Kurz vor zwanzig Uhr war sie dann erschienen, dreißig Minuten nach Theresa, mit bleicher, verängstigter Miene, abgekämpft vom Stress des Tages, unfähig, auch nur ein überflüssiges Wort zu verlieren. Sie hatten gemeinsam, unter Begleitung der betreuenden Schwester, mehrere Minuten am Bett der sanft atmenden, an unzählige Schläuche und Kanülen angeschlossenen, bleichen Gestalt zugebracht, waren dann der dringenden Aufforderung der Schwester gefolgt und hatten Braigs Wohnung in der Hermannstraße aufgesucht.
»Wir tun, was wir können«, hatte ihm Dr. Johannes Kammerer vorher stereotyp in einem kurzen Gespräch erklärt, »aber Sie dürfen nicht zu viel erwarten. Frau Räubers Gehirn litt während des Herzstillstands mehrere Minuten an fehlender Blutversorgung – ob das jemals wieder gut zu machen ist, kann kein Mensch sagen.«
Er fühlte sich müde und verbraucht, als das Telefon läutete, ahnte nur aufgrund der durch die Vorhangritzen einfallenden Lichtstreifen, dass der Morgen bereits angebrochen war. Ann- Katrin schoss neben ihm in die Höhe, die blanke Angst in den Augen. »Das Krankenhaus«, murmelte sie, »Mama …«
Braig richtete sich auf, schüttelte heftig den Kopf, legte seine Hand auf ihre Schulter. »Nein«, erwiderte er, »sie wird wieder gesund.« Er wandte sich um, nahm das Gespräch an, hatte Stöhrs Stimme am Ohr.
»Guten Morgen. Tut mir Leid, aber es ist wieder passiert.«
»Was ist passiert?«, fragte Braig.
»Ein Auto mit einem Toten im Wasser.«
Er fühlte sich wie gelähmt,
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