Schwaben-Wahn
anderen. »Sie müssen entschuldigen«, sagte er mit einer auffallend tiefen Stimme, »aber das war nicht zu erkennen. Von außen sahen wir nur die Umrisse einer Person und schon der erste Anblick, verstehen Sie, das Auto im Wasser und so … Wir hatten nur die Bilder vom Bärensee und von Monrepos aus der Zeitung im Kopf und dann das heute Morgen hier bei uns …« Er zuckte mit der Schulter, schien vor Elend in den Boden zu versinken.
Braig war unfähig, ihn zu trösten, hatte Mühe, die überraschende Wendung zu verarbeiten. »Das heißt, es gibt keinen dritten Mord, kein drittes Opfer?«
»Hier jedenfalls net!«, bestätigte Rössle. Er packte den Kommissar am Arm, zog ihn zur Seite, einen halben Meter von der Treppe weg. »Do guck«, sagte er, »i han mir erlaubt, den Tatort zu verändern, damit jeder sieht, was los isch.« Er zeigte auf die vordere Seitenscheibe des Opel Astra, die von dieser Stelle gut einzusehen war. Direkt hinter dem Glas lehnte der Kopf einer mit einer dunkelhaarigen Perücke bekleideten, mannsgroßen Puppe; ein Anblick, der Braig von Kaufhausschaufenstern geläufig war.
»Sie müssen wirklich entschuldigen«, wiederholte der uniformierte Beamte. Er war neben sie getreten, starrte kopfschüttelnd auf das Fahrzeug im Wasser.
»Ist gut«, versuchte Braig, den Mann zu beruhigen, »die Puppe lag ursprünglich am Boden des Autos?«
»Genau«, bestätigte der Kollege, »wir sahen nur die Umrisse und dann bedenken Sie doch, was in den letzten Tagen ständig in allen Zeitungen abgebildet war …«
»Kein Problem, das wäre mir heute Morgen genauso gegangen.« Er legte dem Mann die Hand auf den Rücken, erinnerte sich, welche Schwierigkeiten er am Bärensee gehabt hatte, den Toten im Inneren des Fahrzeugs zu erkennen. Wenn es sich um eine Puppe gehandelt hätte – sie wären erst in dem Moment darauf aufmerksam geworden, als sie das Auto geöffnet hatten. Dazu aber waren die lokalen Beamten nicht legitimiert, der Tatort musste möglichst unverändert bleiben, damit die Techniker alle Spuren korrekt aufnehmen konnten. Was der Mann erzählte, schien vollkommen nachvollziehbar: Die allgemeine Erregung über die brutalen Morde war längst in eine Hysterie übergegangen, die jeden, sobald er ein Auto im Wasser entdeckte, an ein Verbrechen der Erpresser denken ließ. Fragte sich nur, womit sie es hier in Böblingen zu tun hatten: Einen vergleichsweise harmlosen Streich von jugendlichen Nachahmern? Ein Auto aus reinem Spaß ins Wasser gejagt? Und – um dem Ganzen einen authentischeren Anstrich zu geben – eine Puppe auf die Vordersitze gelegt?
»Mir hent den Besitzer von dem Karre schon überprüft«, sagte Rössle und zeigte auf das Auto, »i bin ja lang genug hier.«
»Und?«
»Wir haben ihn im Register«, erklärte der Polizeibeamte, »er bewegt sich in problematischen Kreisen.«
»Ein notorischer Säufer und Krawallbruder«, verdeutlichte Rössle, »Schlägereie, Alkohol am Steuer und so weiter. Seine Kumpel sind koi Haar besser. Ein Idiot, wie Gott ihn schuf. Stammt aus Sindelfinge, was kasch do anderes erwarte?«
»Dann wäre es vorstellbar, dass es sich um einen Streich seiner Freunde handelt?«
Der uniformierte Kollege nickte. »Die Namen sind bekannt. Wir werden uns sofort um die Leute kümmern, es sei denn, Sie vom LKA wollen das übernehmen.«
Braig winkte heftig ab, es gab nichts, was gegen den Vorschlag des Mannes spräche. »Nein, das ist Ihre Sache. Ich bin froh, wenn Sie das überprüfen.« Er brach ab, weil sein Handy läutete, sah den kritischen Blick Rössles, der ihn im Auge behielt, solange die Nationalhymne zu hören war. Braig nahm das Gespräch an.
»Es tut mir Leid, aber heute brennt es überall«, meldete sich Gerhard Stöhr.
»Was ist los?«
»Sie sind in Böblingen?«
»Ja, aber hier gibt es zum Glück keinen Mord.«
»Es gibt keinen …« Der Kollege am anderen Ende benötigte Zeit, das zu begreifen. »Aber was war das für eine Information?«
»Falscher Alarm«, antwortete Braig, »eine Aktion unbekannter Witzbolde.« Er verzichtete darauf, in Einzelheiten zu gehen, wusste, dass Stöhr ohnehin Schwierigkeiten hatte, die Nachricht zu verdauen.
»Das heißt, Sie sind frei?«
»Weshalb?«
»Weil, es tut mir Leid, aber es gibt eine weitere Meldung eines Fahrzeugs im Wasser.«
Braig schrak zusammen. »Wo?«
»In Waiblingen, in der Rems.«
»Und Sie haben die Gewissheit, dass es sich um ein Fahrzeug mit einem Toten handelt?«
Der Mann am anderen Ende
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