Schwaben-Wahn
Hals.
»Bist du wahnsinnig, du verdammter Scheißkerl!« Er rüttelte ihn hin und her, traktierte ihn mit einer Flut von Schimpfworten und Verwünschungen.
Braig spürte den Schock in allen Gliedern, sah die bleichen, angststarren Gesichter der beiden Kinder. Tränen perlten aus den Augen des Jungen. Der Kommissar trat einen Schritt nach vorn, packte den Fahrer am Arm, stieß ihn zu seinem Auto zurück. »Lassen Sie die Kinder in Ruhe!«
Der Mann starrte ihn aus großen Augen verwundert an. »Wie bitte?«, kreischte er. »Der Scheißkerl rennt mitten auf die Fahrbahn und ich soll ruhig bleiben?« Er schüttelte seinen Kopf, streckte ihn aggressiv nach vorne. »Ist das etwa Ihre gottverdammte Brut?«
Braig gab keine Antwort, legte dem Jungen tröstend die Hand auf die Schulter.
»Warum war ich so dämlich zu bremsen?«, brüllte der Mann. »Schade um meine Reifen. Beim nächsten Mal halte ich voll drauf. Weg mit dem Pack!«
Braig spürte die Wut in sich, hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Er löste sich von dem Kind, spannte seine Muskeln an, trat so nahe an den Mann, dass er dessen Atem spürte. »Verschwinden Sie«, drohte er, »so schnell Sie können. Sonst …« Er ließ den Rest des Satzes offen, fühlte Wut und Hass auf den widerlichen Fahrer in sich wachsen. Er musste sich mit aller Macht zusammenreißen, nicht loszuschlagen, wandte sich dem Jungen zu, der mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihm aufsah. »Es wird wieder«, flüsterte er ihm zu, nahm ihn an der Schulter, drückte ihn ein Stück von dem Fahrzeug weg. »Der Kerl tut euch nichts mehr.« Er sah die Coladose unbeachtet im Rinnstein liegen, merkte, dass der Fahrer keifend um seinen Wagen lief und darin Platz nahm. Inzwischen hatte sich eine endlose Autoschlange gebildet. Er atmete tief durch, roch den penetranten Gestank der Abgase.
»Ihr müsst aufpassen«, sagte Braig zu den beiden Kindern, »hier dürft ihr nicht spielen.«
Der Junge und das Mädchen betrachteten ihn verständnislos. »Wir haben nicht gespielt. Wir gehen nach Hause.«
Braig wollte antworten, kam nicht dazu. Das Auto hinter ihnen setzte sich wild hupend und mit schrill durchdrehenden Rädern in Bewegung, verfolgt von einer nicht enden wollenden Kette von Fahrzeugen. Er spürte Schweißtropfen aus seinen Achseln perlen, knöpfte sein Hemd auf.
Braig wartete, bis er sich wieder halb schreiend, halb sprechend verständigen konnte, wandte sich den Kindern zu. »Wo wohnt ihr?«
»Dort«, sagte das Mädchen, zeigte auf die weit in die Höhe ragenden Fassaden der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie hatte einen kleinen Grind auf der rechten Wange, wohl das Resultat einer Verletzung, war, wie Braig schätzte, acht, neun Jahre alt.
»Hier?«
Sie nickte. »Am Eck.«
Braig schaute sich um. Straßen, hohe Häuser, parkende und fahrende Autos – wohin er auch blickte. »Wo könnt ihr spielen?«, fragte er.
»Spielen?« Die Kinder sahen fragend zu ihm auf, zuckten mit der Schulter. »Dort«, rief der Junge, zeigte in die entgegengesetzte Richtung, »im Stadtgarten.«
Braig kannte das mehrere hundert Meter entfernte Gelände rund um die Uni-Gebäude, wusste, dass dort ständig unzählige Passanten unterwegs waren. »Aber doch nicht allein«, sagte er, »nicht ohne eure Mama.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Mama hat nie Zeit.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung, folgten der lärmumtosten Straße bis zum Fußgängerüberweg, warteten, bis die Ampel endlich Grün zeigte. Sie liefen über den Zebrastreifen direkt auf das Straßenschild zu.
Kriegsbergstraße
. Neben ihnen hupte ein Auto, ungeduldig darauf wartend, dass sie die Fahrbahn endlich überquert hatten. Braig schrak zusammen, fragte sich einmal mehr, ob er nicht den falschen Verbrechern hinterherjagte. Musste man die ganz banale alltägliche Barbarei dieser Gesellschaft, das menschenverachtende Verhalten vieler ihrer Mitglieder wirklich wehrlos über sich ergehen lassen?
Er hatte, die Kinder unmittelbar vor sich, den Gehweg erreicht. Motoren heulten auf, Autos rasten vorbei, nur wenige Zentimeter hinter ihm. Die Straße machte ihrem Namen alle Ehre. Es war weiß Gott ein Krieg, der hier ablief. Ein Krieg aus Lärm, Abgasen, durch die Häuserschluchten preschenden Blechgeschossen. Und das mitten im Zentrum der Stadt.
Er sah, wie die Kinder auf einen nahen Hauseingang zuliefen, winkte ihnen zu, lief weiter bis zum Empfangsgebäude des Katharinenhospitals. Die große Drehtür führte in ein helles, von einem Glasdach
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