Schwaben-Wut
wie das Geschehen rund um die Bahn.
Seine Frau Waltraud hatte seit jeher ein großes Herz mit viel Verständnis für die Leidenschaft ihres Mannes. Waren sie in den ersten Ehejahren noch gemeinsam fast Wochenende für Wochenende auf Schienen unterwegs in den schönsten Regionen dieses Kontinents, so hatte sich das mit zunehmender Anzahl der Kinder immer seltener realisieren lassen. Erst jetzt, mit dem Erreichen des Vorruhestands, hatte sich für Herrn Kapl die Möglichkeit ergeben, auch unter der Woche ohne die noch berufstätige Partnerin zu kleineren Touren zu starten. Besonders das Fotografieren der Züge inmitten grüner Landschaften war ihm zu einem besonderen Anliegen geworden.
Sparsam, wie es sich für einen Schwaben gehörte, packte er seinen Rucksack, legte zwei Flaschen Wasser, mehrere belegte Brote, das Kursbuch und seinen Fotoapparat dazu und nutzte eine der frühesten Verbindungen, um seinem Hobby möglichst lange frönen zu können. Am Ziel angelangt, verließ er den Zug und wanderte die Strecke entlang zum nächsten Bahnhof, um unterwegs attraktive Fotomotive zu erhaschen. Je nach Wetter und Landschaft musste er oft den Film wechseln.
Wackershofen mit dem direkt an den Gleisen gelegenen fränkisch-hohenlohischen Freilichtmuseum war erst seit wenigen Wochen offizieller Haltepunkt an der Strecke von Schwäbisch Hall nach Heilbronn. Herbert Kapl verließ an diesem Mittwoch den Triebwagen an dem alten, frisch restaurierten Bahnhof, besichtigte die originalgetreu wiederhergerichteten Bauernhäuser des Museumsgeländes, folgte dann kurz vor Mittag den Gleisen in Richtung Waldenburg. Wenige Kilometer entfernt erhoben sich im Süden die dicht bewachsenen Berge des Schwäbischen Waldes.
Kapl orientierte sich am Stand der Sonne, suchte einen erhöhten Platz, um den Zwei-Uhr-Triebwagen mit der Kulisse Waldenburgs auf einem langgezogenen Bergsporn im Hintergrund zu fotografieren. Er kämpfte sich durch Gestrüpp und Dornen an einer schmalen Hecke vorbei, erklomm den winzigen Hügel, der sich unmittelbar neben einem Feldweg in die Höhe wölbte. Die Bahnlinie lag keine hundert Meter entfernt, etwas unterhalb, zu seinen Füßen.
Kapl richtete die alte Spiegelreflex her, sah den Zug am Horizont hinter der breiten Kurve auftauchen. Er folgte dem Triebwagen mit seinem Blick, hatte plötzlich einen stechenden Geruch in der Nase. Ein Gemisch aus scharfem Nitrat und ekelhaft süßlicher Verwesung.
Kapl stieß die Luft aus seiner Nase, atmete tief durch. Der Gestank raubte ihm fast die Besinnung. Er spürte Ekel in sich aufkommen. Der Zug kam näher, war nur noch wenige Meter von der erwünschten Fotoposition entfernt.
Kapl nahm die Spiegelreflex hoch, versuchte sich zu konzentrieren. Vergeblich: er spürte Würgen in seinem Magen. Der Gestank war unerträglich. Er zitterte am ganzen Leib. Kapl ließ den Apparat hängen, kletterte vorsichtig den Erdhügel hinunter. Er schnappte nach Luft, das Rumoren in seinem Magen verstärkte sich zusehends. Durchzuatmen war nicht möglich. Kapl wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht hin und her, versuchte, sich frischen Sauerstoff zu verschaffen. Er kletterte an der Hecke entlang, verletzte sich an dem dornigen Gestrüpp, nahm verwundert wahr, dass auf seinem linken Arm mehrere Blutstropfen aus einem Riss traten.
Kapl blieb stehen, sah den Zug vorbeifahren. Die Zugluft ließ ihn erfreut aufatmen. Er beobachtete, wie zwei junge Mädchen hinter einem der Fenster winkten, grüßte zurück. Wenige Sekunden später war der Zug hinter einem kleinen Wald verschwunden.
Herbert Kapl starrte ins Dickicht, versuchte, über die dornige Hecke zu steigen. Dann der Geruch wieder durchdringend. Kapl hob seinen Fuß, spürte den Widerstand. Der Gestank war nicht mehr auszuhalten. Angewidert starrte Kapl nach unten. Die Überreste eines Toten lagen genau vor ihm.
36. Kapitel
Der Zusammenhang zwischen dem ermordeten Fernsehmanager und Andreas Stecher kam Neundorf in dem Moment, als sie zusammen mit Braig das LKA verlassen wollte, um Bernhard Söhnle in der Tübinger Universitätsklinik zu besuchen.
»Ich glaube, jetzt habe ich verstanden, warum er Harf tötete.«
Braig schaute seine Kollegin überrascht an.
»Wie beurteilst du Groß, den Lehrer Stechers?«, fragte sie.
Er hatte ihr und den übrigen Mitgliedern der Sonderkommission von seinem Gespräch mit dem Mann ausführlich berichtet.
»Sehr kompetent«, erklärte Braig ohne langes Überlegen, »ich glaube, Groß ist ein begabter
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