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Schwaben-Zorn

Titel: Schwaben-Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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aufsteigen, physisch spürbaren Ekel vor der Frau, die ihm gegenübersaß. Sein Magen verkrampfte sich, Gänsehaut erfasste ihn. Jeder Atemzug schmerzte. Die Luft in dem kleinen Raum schien von giftigen Gasen durchsetzt. Braigs Widerwille, noch mehr Zeit in dem bigotten Haus zu verbringen, ließ sich nicht länger verdrängen. Mit versteinerter Miene sprang er von seinem Stuhl auf, lief zum Fenster. Er schnappte nach Luft, musste an sich halten, nicht mit körperlicher Gewalt gegen die Frau loszugehen. »Die Adresse«, forderte er mit lauter, fast drohender Stimme, »wo Ihre Tochter zuletzt lebte. Wir benötigen sie. Jetzt sofort.«
    Er merkte, wie sich ihr Gesichtsausdruck verwandelte, sie mit überraschten Augen zu ihm aufblickte. Die Änderung seines Tonfalls schien ihre Wirkung zu hinterlassen.
    »Ihre Adresse?«
    »Die neue Wohnung«, bestätigte er. »In Christinas Ausweis ist sie noch nicht eingetragen.«
    Erika Bangler zuckte ratlos mit der Schulter. »Fragen Sie meinen Mann. Ich weiß es nicht.«
    Braig atmete tief durch, starrte aus dem Fenster auf die schmale Straße. Graue Nebelschwaden hingen über den Dächern. Das triste Novemberwetter hatte die Umgebung fest im Griff.
    Er blickte auf seine Uhr, sah, dass es kurz nach elf war.
    Eine Stunde bis zum Mittag und immer noch trüb und düster. Wie das Haus, in dem er sich gerade aufhielt und die Person, die hinter ihm saß.
    »Wo ist Ihr Mann?», fragte er.
    »Im Büro.«
    »Ich benötige seine Adresse und die Telefonnummer.« Er musste sich Mühe geben höflich zu bleiben, notierte sich die Angaben, die ihm die Frau nannte.
    »In Stuttgart?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Fellbach. Nicht weit vom Bahnhof.«
    Braig beeilte sich, das Haus zu verlassen. Zum ersten Mal an diesem Tag atmete er befreit auf, als er draußen in die kaltfeuchte Novemberluft trat.

6. Kapitel
    Der Mann mit der dunklen Lederjacke war Lisa Neumann zum ersten Mal aufgefallen, als sie es im zweiten Anlauf endlich geschafft hatte, das lebensgefährliche Verkehrsgetümmel der Gerokstraße in Stuttgart zu überwinden und auf die andere Seite der Fahrbahn zu gelangen. Sie hatte den Pulk stadtauswärts fahrender Autos passieren lassen, war bis zur Mitte der in die düsteren Nebelschleier des späten Novembernachmittags gehüllten Straße gesprungen, hatte dort ängstlich zur Seite spähend darauf gewartet, dass die Gegenfahrbahn endlich frei wurde. Fahrzeug auf Fahrzeug raste in ungebremstem Tempo an ihr vorbei, mit gleißenden Scheinwerfern das trübe Dämmerlicht durchstoßend, Abgasschwaden und Wolken feinsten Gummiabriebs in die feuchte Luft wirbelnd. Als sie zu den nur schwach beleuchteten Stufen der Gerokstaffel abtauchte, sah sie den Mann in lebensbedrohender Manier die Straße hinter sich überqueren, wütend hupende und erst in letzter Sekunde bremsende Autos sträflich missachtend. Sie fing seinen Blick auf, sah, dass er genau in ihre Richtung spähte.
    Lisa folgte der steilen Treppe nach unten, passierte den Urbansplatz und die um diese Tageszeit dicht belebten Anlagen des Schlossgartens, fügte sich in der Klettpassage in den dem Hauptbahnhof zustrebenden Menschenstrom ein. Mit Einkaufstaschen und Aktenmappen bewehrte Frauen und Männer eilten an ihr vorüber, wenige Meter entfernt torkelte ein Betrunkener durch die Menge. Niemand schien sie zu beachten, die meisten hatten ihre Gesichter den Auslagen der Geschäfte auf beiden Seiten zugewandt.
    Lisa starrte auf die Schaufenster eines Ladens zu ihrer Rechten, versuchte ihr Spiegelbild zu erhaschen. Für Sekunden erkannte sie ihr Gesicht im Widerschein der Scheibe, das schmale, bleiche Antlitz einer etwas verbittert wirkenden Frau, suchte angestrengt aber vergeblich nach den Folgen des nächtlichen Überfalls. Die Person im Schaufenster schien unversehrt, ohne jedes Anzeichen von Prellungen oder anderen Wunden.
    Sie fühlte sich unmittelbar erleichtert, hoffte, die Verunstaltung ihres Gesichts sei tatsächlich kaum zu erkennen, wandte sich der Rolltreppe zum Hauptbahnhof zu. Das stählerne Monstrum quietschte, bewegte sich ratternd und in unregelmäßigem Stakkato aufwärts. Sie reihte sich in die nach oben strebende Menschenmenge ein, blickte ein letztes Mal in das Schaufenster. Schmutzige Schlieren überzogen das Glas, vereitelten die Spiegelwirkung. Schwarze und rote Graffiti, wellige Linien mit Schnörkeln und Punkten reichten von der benachbarten Wand bis an den unteren Rand des Schaufensters. Die Plakate, die im Inneren

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