Schwanengesang – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
streckte sich ungestüm von seinem lästigen Piedestal empor; ein riesiges Ölgemälde zeigte die Rachegöttinnen, wie sie über in Kämpfe verwickelte Kohorten hinwegfegen; Beethoven starrte finster von einem Sims auf sie herunter; ein ausgestopfter Panther war dabei, sich mit aufgerissenem Maul auf einen unvorsichtigen Dschungelbewohner zu stürzen; ein Laokoon mit marmornen Gliedern lag auf ewig in seinen Fesseln; der heilige Georg würde es trotz erhobener Lanze und angespannten Muskeln nie schaffen, soviel war klar, den Drachen zu erledigen; und in einer Ecke der Eingangshalle versuchte eine wildgewordene Katze gerade, einen Papageien zu erlegen. Der Raum wirkte alles andere als ruhig, ganz im Gegenteil. Er barst geradezu vor Energie. Obwohl ihm der Anblick bekannt und er aus diesem Grund einigermaßen vorbereitet gewesen war, konnte Adam ein Schaudern nicht unterdrücken.
Miss Thorn durchschritt dieses gespenstische Chaos ungerührt und führte sie in ein kleines Hinterzimmer. Hier wandte sie sich Fen zu.
»Nun?«, fragte sie in heiserem Flüsterton nach.
»Nun?«, konterte Fen verständnislos. »Wo ist Mr. Shorthouse?« Misstrauisch beäugte er eine große Urne, die mit einer schablonenhaften, stürmischen Zeichnung vom Raub der Sabinerinnen verziert war, so als fürchte er, der Komponist könne sich darin verstecken.
»Alle geschäftlichen Angelegenheiten des Meisters«, zischelte Miss Thorn, »gehen durch meine Hände. Sie dürfen offen zu mir sprechen.«
»Ach wirklich, darf ich das?«, fragte Fen, der selbst unter günstigeren Umständen keine Geduld besaß. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass ich mit niemandem außer Mr. Shorthouse persönlich verhandeln darf.«
»Unmöglich.«
»Dann werde ich nach Amerika zurückfliegen«, verkündete Fen im Brustton der Überzeugung.
»Wenn Sie vielleicht eine Stunde warten könnten …«
»Nein«, sagte Fen, über dessen gewohnte Sprechweise sich während des Gesprächs ein eher unglaubwürdiger amerikanischer Akzent gelegt hatte. » Un möglich«, fügte er unwillkürlich hinzu. »Ich muss dringend Richard Strauss aufsuchen – sozusagen sofort .« Er runzelte die Stirn mit solchem Ernst, dass Miss Thorn, in Adams Augen eine im Grunde leichtgläubige Seele, sichtlich erschüttert war.
»Nun ja«, flüsterte sie, »ich nehme an, wir könnten den Meister stören …«
»Wir sollten den Meister unbedingt stören. Ich hege keine Zweifel daran, dass er sehr erbost wäre, wenn sie mich nicht zu ihm ließen.«
Das war ein Volltreffer, ganz eindeutig; es war offensichtlich, dass das Missfallen des Meisters das letzte war, was Miss Thorn wollte. Sie holte tief Luft wie jemand, der sich anschickt, in kaltes Wasser zu springen.
»Warten Sie«, sagte sie. »Ich komme gleich zurück.«
Sie warteten; Miss Thorn kam gleich zurück. »Würden Sie bitte hier entlang kommen«, sagte sie, was weniger eine Aufforderung als ein fassungsloser Kommentar in Bezug auf ihr unglaubliches Glück war. »Der Meister empfängt Sie.«
Sie durchquerten erneut die Eingangshalle. Wie schön es doch wäre, dachte Adam bei sich, wenn mittlerweile die Erfüllung eingetreten wäre – Merkur entflogen, die Rachegöttinnen auf und davon, der Panther müde und satt, Laokoon tot, der Drache erschlagen. Aber nein, alle waren wie zuvor unverändert in ihrem Tun gefangen. Adam schauderte wieder, als Miss Thorn sie die Treppe hinaufführte. Ihre Gestik gab zu verstehen, dass der Schleier, der das Tempelinnere verbarg, jeden Moment zur Seite gerissen würde. Sie ging auf Zehenspitzen und war umständlich darum bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden.
Es dauerte nicht lange, und sie waren an der Tür zum Allerheiligsten angelangt. Miss Thorn öffnete sie ehrfürchtig und spähte hinein. Eine mürrische Stimme sagte:
»Nun kommen Sie schon, kommen Sie schon.«
Einen Moment später waren sie eingetreten und standen Ihm gegenüber. Und Er, soviel sollte angemerkt sein, legte auf Miss Thorns weitere Anwesenheit keinen besonderen Wert.
»Schon gut, Beatrix«, sagte er gereizt. »Ich komme zurecht.«
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich bin ich sicher. Lass mich mit den Herren allein.«
»Sehr wohl, Meister. Überanstrengen Sie sich nicht.«
»Ich bin vollkommen gesund.«
»Ich wollte damit nicht andeuten, Sie seien nicht vollkommen gesund, Meister. Aber Sie sollten sich nicht grundlos verausgaben.«
»Scher dich raus, Beatrix.«
»Sehr wohl, Meister. Wenn Sie mich benötigen, brauchen
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