Schwanengesang – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
dürfte mittlerweile ziemlich dunkel sein, und wir wollen doch nicht über die Dachkante fallen.«
Fen durchwühlte die Taschen seines Regenmantels, und nachdem er nach und nach ein benutztes Taschentuch, eine halb leere Zigarettenschachtel, eine Ausgabe von Über die Nachfolge Christi und einen kleinen, wolligen Plüschbären namens Thomas Shadwell zutage gefördert hatte, fand er seine Taschenlampe.
Draußen war es bitterkalt. Adam zitterte und schlug sich den Mantelkragen hoch. Kein einziger Stern war zu sehen und der Mond noch nicht aufgegangen, aber im Licht einer Straßenlaterne konnten sie die Front des Playhouse in der Beaumont Street erkennen. Weiter zur Linken flackerte das Licht aus dem Foyer des Randolph-Hotels kurz auf, als jemand durch die Drehtüre hineinging, und verlöschte dann wieder. Die Schritte eines einsamen Fußgängers auf der St. John Street drangen übernatürlich klar und deutlich zu ihnen herauf. Adam, der große Höhen mied, fühlte eine schwache, aber unverkennbare Übelkeit. Die Entdeckung, die sie kurz darauf machten, reichte jedoch aus, alle anderen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben.
Boris Stapleton lag ungefähr zwischen dem Oberlicht, das in die Decke von Edwin Shorthouses Garderobe eingelassen war, und dem Häuschen, das die Maschinerie des Aufzugs beherbergte (und dessen Türe in diesem Moment traurig im Wind knarrte), mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Adam musste nicht erst gesagt werden, dass er tot war, obwohl an seinem Körper keine Spuren von Gewalteinwirkung zu erkennen waren, abgesehen von den Schürfwunden, die sein Sturz verursacht hatte. Neben dem Toten waren Spuren von Erbrochenem. Als sie ihn herumdrehten, verriet sein gut aussehendes junges Gesicht nichts als leichtes Erstaunen.
Kapitel 19
Sie ließen Stapletons Leiche die Leiter hinab, so gut es ging, und trugen sie in Shorthouses Garderobe hinüber, die seit dessen Tod nicht benutzt wurde. Was sie sich vorgenommen hatten, war äußerst anstrengend und ließ sie keuchen und schwanken. Zum Glück begegneten sie niemandem.
»Und«, schluckte Adam, als er sich aufrichtete, »was machen wir jetzt?«
»Mudge anrufen. Würdest du das bitte übernehmen? Erzähl ihm, was passiert ist.« Fen strich sein widerborstiges Haar zurück. »Aber verrate niemandem sonst ein Sterbenswörtchen – besonders nicht Judith.«
»Sicherlich sollte man sie …«
»Ich fürchte«, sagte Fen grimmig, »dass sie zusammenbricht, wenn sie die Nachricht bekommt. Und bevor das passiert, muss ich ihr einige Fragen stellen.«
»Wie starb er?«
»Arsen, vermute ich.«
Adam ging zum Telefon. Unten spielte sich das Orchester für den dritten Akt warm. Die erste Oboe dröhnte herauf, lief innerhalb einer Tonleiter eine Quinte auf und ab; die Flöten gaben sich kleinen Bravourstückchen hin; die Tuba tutete zaghaft. Fen beugte sich abermals hinunter, um Stapletons Leiche zu untersuchen. Trotz der Temperaturen auf dem Dach war immer noch ein Rest Wärme darin. Der Körper des Mannes selbst war dünn, fast bis aufs Skelett abgezehrt. Der Ausschlag auf seinen Wangen, an seinem Hals und dem Kinn sah aus wie ein Ekzem. Ein merkwürdiger, sehr schwacher Geruch stieg von ihm auf, der an Knoblauch erinnerte. Während er einen leichten Ekelschauder unterdrückte, öffnete Fen den Mund und fühlte nach der Zunge, die stark belegt war. Die Augenlider waren rot und geschwollen. Fen untersuchte die Fingernägel, stellte fest, dass diese einen weißen Streifen hatten, wendete sich dann dem Haar und anschließend den Handflächen zu, die hart und verhornt waren. Dann ging er hinüber zum Waschbecken und seifte sich gründlich die Hände ein. Adam kam zurück.
»Mudge«, sagte Adam niedergeschlagen, »hat sich ziemlich aufgeregt. Ich glaube, so langsam beginnt er zu verstehen, dass seine Selbstmordtheorie nach dem Überfall auf Elizabeth und alledem hier ins Wanken gerät … Jedenfalls ist er auf dem Weg hierher. Hast du irgendetwas herausgefunden?«
Fen trocknete sich die Hände an einem Taschentuch ab; es schien in dem Raum keine Handtücher zu geben. »Mit dem Arsen lag ich richtig. Und die Vergiftung war chronisch – er muss es über Wochen zu sich genommen haben.«
Adam hielt seinen Blick vom Gesicht der Leiche abgewendet. Fen hatte den Mund des Toten nicht wieder geschlossen, so dass er nun unangenehm weit offen stand. »Kein Wunder«, überwand Adam sich zu sagen, »dass er sich krank fühlte. Ich denke, wenn er nur so vernünftig
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