Schwanengesang – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
Haynes und Boris Stapleton in der Anwesenheit von Adam, Joan und Elizabeth auf einem Londoner Standesamt getraut. Stapletons Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Mitten in all dem Trubel begann das neue Universitätssemester, und Fen musste sich mit Vorlesungsvorbereitungen und Hausarbeiten beschäftigen. Dennoch fand er die Zeit, den Proben zu den Meistersingern hin und wieder einen Besuch abzustatten, und es war bei einer dieser Gelegenheiten, dass er mit Karl Wolzogen ins Gespräch kam.
Der alte Herr ruhte sich gerade für einen Moment von seiner schweren Arbeit aus, die um so anstrengender und vielfältiger wurde, je näher der Tag der Premiere rückte. Er war mit vollkommen unmöglichen Flanellhosen und einer Lederjacke bekleidet, aus deren Brusttasche ein großes rotes Seidentaschentuch heraushing. Sein gnomenhaftes Gesicht mit den grauen Stoppeln am Kinn war gebräunt, aufmerksam und zerfurcht. Er war ganz in die Probe vertieft, auch wenn er in diesem Augenblick nicht direkt an ihr teilnahm.
»Dieser Peacock«, sagte er, »ist ein wahrhaft Wagnerianischer Dirigent. Er besitzt jene – wie ist’s genannt? – jene mentale Beweglichkeit, die dem Meister so wichtig war und über die Richter nie verfügte. Sie müssen wissen, ich habe sie alle erlebt oder mit ihnen zusammengearbeitet: Toscanini, Bülow, Richter, Nikisch, Mottl, Barbirolli, Beecham … mit allen von ihnen. Mir kann man nichts mehr vormachen, glauben Sie mir. Dieser Peacock ist gut.«
Fen betrachtete ihn interessiert. »Sie sind ein fanatischer Wagnerianer«, stellte er fest.
» Aber natürlich. « Karl fiel immer wieder ein wenig in seine Muttersprache zurück, sobald er jemandem begegnete, der sie verstand. »Mein gesamtes Leben gehört der Oper – und ganz besonders Wagner, selbstverständlich . Hätte mein Vater mir die musikalische Ausbildung bezahlen können, ich wäre selbst ein Operndirigent geworden. Ich habe jedoch zu spät damit angefangen. Also war ich immer nur der Regisseur oder Spielleiter oder Inspizientengehilfe. Ich war Inspizientengehilfe an der Oper von Weimar, mit sechzehn … Danach war ich an vielen der deutschen Opernhäuser, und eine Zeitlang in Amerika. Als die Nazis kamen, war ich schon zu alt für ihre Ideen, und die Vorstellung, dass solche Dummköpfe den Meister verehren, war mir verhasst. Mir wäre lieber gewesen, sie hätten die Aufführung seiner Werke verboten. Deswegen arbeitete ich hier. Dann kam der Krieg, und einige Dummköpfe sagten: ›Weil Hitler Wagner liebt, werden wir Wagner in England nicht aufführen.‹ Hitler liebte auch euren Edgar Wallace und seine blutrünstigen Geschichten, aber niemand hat gesagt, die solle man nicht mehr lesen … Heute ist alles besser, und bald werde ich in meine Heimat zurückkehren. Da es aber dort keinen Wagner mehr gibt und ich, bevor ich sterbe, noch ein letztes Mal seine sieben großen Opern hören will, bleibe ich fürs Erste in England.« Eine lange Weile überlegte er, dann sagte er in leicht verändertem Tonfall: »Und Sie, Sir, untersuchen den Tod dieses Mannes?«
Fen zuckte mit den Schultern. »Das habe ich.«
» Wäre es nicht besser …«
»Wenn der Mörder unentdeckt bliebe? Oberflächlich betrachtet schon. Doch niemand von uns hat das Recht, über Wert oder Unwert einer menschlichen Existenz zu urteilen. Alle sind etwas wert oder niemand. Der Tod Christi und der Tod Sokrates’«, fügte Fen trocken hinzu, »führen uns vor Augen, dass unsere Urteile alles andere als unfehlbar sind … Und das Übel des Nazismus lag genau darin, dass eine Gruppe von Männern begann, ihre Mitmenschen auf unterschiedliche Weise zu bewerten und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Das ist eine Vorgehensweise, die ich persönlich nicht unterstützen möchte.«
Karl schwieg eine Weile, bevor er antwortete.
» Vielleicht haben Sie Recht «, sagte er schließlich. »Aber ich bin froh, dass er tot ist.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich bin froh, dass dieser Mensch tot ist.«
Am Samstag fand die Kostümprobe für den ersten Akt statt, am Sonntag die für den zweiten und dritten. In der Zwischenzeit waren wahre Wunder an künstlerischem Einsatz und Arbeitseifer vollbracht worden. Alle Befürchtungen, die eventuell durch den verspäteten Austausch des Sachs ausgelöst worden waren, zerstreuten sich nun. Fen besuchte gemeinsam mit Elizabeth die Probe zum zweiten Akt. Nachdem sie um halb sieben Uhr abends zu Ende war, gesellte sich Adam zu
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