Schwanengesang (German Edition)
und bedeutete Marc, darauf Platz zu nehmen. »Ich werde Sie jetzt allein lassen«, sagte er diskret und verschwand durch die Tür.
Marc suchte verzweifelt nach einem Anfang, doch das Einzige, was ihm einfiel, war eine Floskel. »Wie geht es Ihnen, Frau Reichert?«
Die Frau quittierte die Frage mit einem schwachen Lächeln. »Wie es mir geht?«, fragte sie zurück. »Nun, eigentlich sollte es mir gut gehen, oder? Ich wohne in einem schönen Haus und der Frühling steht vor der Tür. Wenn da nur nicht diese unerträglichen Schmerzen wären.«
Unvermittelt ergriff sie Marcs Hand und umklammerte sie. »Bitte, Herr Hagen, Sie müssen mir glauben: Ich bin nicht wehleidig. Ich habe mir beim Reiten schon alle möglichen Knochen gebrochen, ich hatte jahrelang Migräne. Aber die Schmerzen, unter denen ich seit Monaten leide, sind mit nichts zu vergleichen. Diese Schmerzen sind nicht stark, sie sind nicht sehr stark, sie sind schlicht und einfach unerträglich. « Sie fing an zu weinen. »Und die Schmerzen sind permanent da. Auch jetzt. Sie lassen einfach nicht nach, nicht eine Sekunde. Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr lesen, nicht einmal mehr fernsehen. Diese Schmerzen beherrschen mein ganzes Leben. Es ist, als wenn jemand mit einem Messer in meinen Eingeweiden herumschneidet. Ich halte es nicht mehr aus. Ich halte es einfach nicht mehr aus.«
Marc versuchte, sich seine Erschütterung nicht anmerken zu lassen. »Kann man da nichts machen?«, fragte er behutsam. »Ich meine, es gibt doch Schmerz…«
Johanna Reichert schüttelte schon den Kopf, bevor Marc seinen Satz beendet hatte. »Wir, das heißt Herr Dr. Heinen und ich, haben alles versucht. Ich habe so ziemlich jedes Schmerzmittel ausprobiert, das auf dem Markt erhältlich ist. Und ich rede nicht nur vom legalen Markt. Nichts hat geholfen, gar nichts. Herr Hagen, ich weiß, dass ich Magenkrebs im Endstadium habe und ohnehin nur noch kurze Zeit leben werde. Anfangs habe ich gedacht, ich könnte die Krankheit besiegen. Jetzt will ich nur noch sterben. Ich kann einfach nicht mehr. Ich habe mir sogar schon überlegt, nichts mehr zu essen und zu trinken. Aber mir wurde gesagt, so zu sterben sei ebenfalls grausam und qualvoll. Das Einzige, was ich will, ist einen menschenwürdigen Tod. Ist das zu viel verlangt?« Auf einmal krallte sie ihre Hände mit einer erstaunlichen Kraft, die Marc ihr gar nicht mehr zugetraut hätte, in seinen Unterarm und starrte ihn durchdringend an. »Bitte, helfen Sie mir. Sie müssen mir helfen. Ich flehe Sie an! Erfüllen Sie mir meinen einzigen und letzten Wunsch: Lassen Sie mich sterben!«
6
Im Konsulat war wieder einmal der Teufel los. Marc musste sich den Weg durch die Masse anderer Gäste bahnen. Die Luft war von Alkohol und Zigarettenrauch geschwängert, auf mehreren Monitoren wurde ein Fußballspiel übertragen. Entsprechend hoch war der Lärmpegel, was Marc jedoch nicht störte. Im Gegenteil: Bei seinem heutigen Gespräch konnte er keine Zuhörer gebrauchen.
Am Nachmittag hatte er Melanie von seinem Besuch bei Johanna Reichert berichtet, von dem entsetzlichen Zustand, in dem er die Frau vorgefunden hatte. Marc war ehrlich gewesen und hatte ihr auch gesagt, dass er sich noch nicht endgültig entschieden habe, seit dem Treffen aber stark dazu tendiere, der Frau zu helfen. Natürlich hatte es wieder Streit gegeben. Zum Glück hatten sie am Ende so etwas wie einen Kompromiss gefunden: Marc musste Melanie versprechen, sich von Gabriel beraten zu lassen, bevor er einen definitiven Entschluss traf. Melanies Forderung hatte Marc zwar verwundert, weil er wusste, dass Melanie nicht allzu viel von seinem besten Freund hielt, aber sie hatte gemeint, Gabriel sei der einzige Mensch, von dem Marc sich etwas sagen ließe und der ihm den Kopf vielleicht noch zurechtrücken könne. Marc war einverstanden gewesen, um den Streit nicht vollends eskalieren zu lassen. Aber auch, weil er tatsächlich Wert auf Gabriels Meinung legte.
Er fand seinen Freund in der hintersten Ecke des Nichtraucherbereichs, auf dem Tisch ein leeres Glas Weizenbier. Offenbar nicht sein erstes an diesem Abend, was drei Striche auf seinem Deckel belegten.
»Die beste Dallas -Folge aller Zeiten?«, fragte Gabriel anstatt einer Begrüßung, kaum dass Marc neben ihm Platz genommen hatte.
Da Gabriel diese Frage schon oft gestellt hatte, kannte Marc natürlich die gewünschte Antwort und spielte brav mit. »Folge 191: Schwanengesang .«
Gabriel zeigte mit dem ausgestreckten
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