Schwanengesang (German Edition)
Mensch? Was hat ein Leben mit unerträglichen Schmerzen noch mit Menschenwürde zu tun? Und ich glaube auch nicht, dass Gott, wenn es ihn denn gibt, will, dass sich eines seiner Geschöpfe so quälen muss.«
Gabriel musterte Marc lange. »Was sagt Melanie dazu? Sie weiß es doch, oder?«
Marc nickte. »Sie ist natürlich dagegen. Und sie hat mir quasi befohlen, dich nach deiner Meinung zu fragen. Was ich hiermit getan habe.«
Gabriel atmete tief durch. »Weißt du was, Marc? Ich glaube, du willst gar keinen Rat von mir. Du hast dich schon lange entschieden. Was du willst, ist eine Art Bestätigung, eine Absolution, dass deine Entscheidung richtig war. Aber die wirst du von mir nicht bekommen.«
»Du bist also strikt dagegen?«
»Lass es mich so sagen: Von allen schwachsinnigen Ideen, die du in deinem bisherigen Leben hattest, ist das mit Abstand die schwachsinnigste. Und ich kann dir nur raten als Mensch, als Jurist und als dein Freund: Lass! Die! Finger! Davon!«
Marc seufzte. »Du hast die Frau nicht gesehen«, startete er einen letzten Versuch, Gabriel vielleicht doch noch zu überzeugen.
»Nein, aber das muss ich auch nicht um zu wissen, dass es falsch ist, was du vorhast.«
7
Als Marc nach Hause kam, schlief Melanie bereits. Er hörte ihre ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge. Leise zog er sich aus und legte sich neben sie, konnte aber nicht einschlafen.
Wieder und wieder ging er das Gespräch mit Gabriel durch. Nach seiner Partnerin hatte jetzt auch sein bester Freund eindeutig Stellung bezogen. Die beiden wichtigsten Ratgeber in seinem Leben rieten ihm davon ab, Johanna Reichert zu helfen. Und sie hatten natürlich recht.
Andererseits hatten die beiden nicht gesehen, was er gesehen hatte: die abgrundtiefe Verzweiflung der Frau. Was musste ein Mensch durchlitten haben, bis er einen anderen geradezu anflehte, ihn zu töten?
Aber eine Frage blieb: warum gerade er? Ein Mensch, der Johanna Reichert nur einmal in seinem Leben gesehen hatte. Warum half Heinen ihr nicht? Oder diese Charlotte Vollmer, ihre beste Freundin? Natürlich hatten die beiden gute und rationale Gründe für ihre Weigerung, aber die hätte er schließlich auch.
Doch dann musste Marc wieder an die todkranke Frau denken, und ihm wurde klar: Es war vollkommen egal, was Heinen, Charlotte Vollmer, Melanie, Gabriel und alle anderen Menschen taten oder dachten. Er musste eine Entscheidung treffen. Er ganz allein. Denn er musste anschließend mit dieser Entscheidung leben.
Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Johanna Reicherts Porträt, von dem sie ihn die ganze Zeit anstarrte.
Als Marc aufwachte, war er schweißgebadet, aber er hatte seine Entscheidung getroffen.
Er tastete mit der Hand auf die andere Seite des Bettes, aber Melanie war schon aufgestanden. Ein Blick auf den Wecker verriet ihm, dass es schon kurz nach acht Uhr morgens war. Marc setzte sich auf und ging im Kopf blitzschnell die Termine des Tages durch. Dann ließ er sich erleichtert in sein Kissen zurücksinken. Keine Gerichtstermine, keine Mandantengespräche an diesem Vormittag. Die Kanzlei konnte ein paar Stunden ohne ihn auskommen.
Marc stand gemächlich auf. Nachdem er sich geduscht und angezogen hatte, rief er in der Kanzlei an und teilte seiner Sekretärin Stefanie mit, dass er etwas später kommen werde. Sie teilte ihm im Gegenzug mit, Heinen habe schon drei Mal angerufen. Marc überlegte einen Moment, dann bat er seine Sekretärin, noch für den Vormittag einen Termin mit dem Arzt zu vereinbaren.
Vor der Tür von Melanies Arbeitszimmer holte er noch einmal tief Luft, um sich für das bevorstehende Gespräch zu wappnen. Er klopfte an und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Melanie saß mit dem Rücken zu ihm an dem PC.
»Ich würde gerne etwas mit dir besprechen«, begann Marc zögernd.
»Tu dir keinen Zwang an.« Sie antwortete, ohne sich umzudrehen.
Marc schloss für einen Moment die Augen. Offenbar hatte sie nicht vor, es ihm leicht zu machen. Aber das hatte er auch nicht erwartet.
»Es geht noch mal um diese Sterbehilfesache. Ich habe eine endgültige Entscheidung gefällt. Und sie lautet: Ich werde dieser Frau helfen.« Endlich war es heraus. Und endlich drehte sich Melanie zu ihm um.
»Ich habe es von Anfang an gewusst, Marc«, sagte sie leise. »Und Gabriel hat es auch gewusst. Er hat mich gestern Abend nach eurem Treffen noch angerufen.«
Marc rieb sich unschlüssig das unrasierte Kinn. »Ich hoffe, ihr … du hast ein
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