Schwanengesang (German Edition)
anhielt, das eine Frau von bemerkenswerter Schönheit beinahe in Lebensgröße zeigte. Marc trat näher an das Bild heran, bis er alle Details erkennen konnte: Die Frau war Anfang dreißig, hatte vollkommen ebenmäßige Züge und einen porzellanfarbenen Teint. Das schwere, dunkle Haar fiel ihr bis fast auf die Hüfte. Sie hatte dem Betrachter die Seite zugewandt und schaute ihn über die Schulter hinweg an. Bekleidet war sie mit einem schulterfreien cremefarbenen Kleid. Marc musste unwillkürlich an das berühmte Winterhalter-Porträt der Kaiserin Sissi denken, das er einmal in der Wiener Hofburg gesehen hatte.
»Ja, das ist Johanna Reichert«, sagte Heinen, der lautlos hinter Marc getreten war. »Das Bild war ein Hochzeitsgeschenk ihres Mannes.« Er zeigte auf das Gemälde daneben, das einen Mann im Anzug zeigte. »Eberhard Reichert war Unternehmer. Anfang der Neunziger hat er sein Unternehmen verkauft und Millionen gemacht. Eigentlich wollte er zusammen mit Johanna das Leben genießen, aber kein Jahr später war er tot.« Er zuckte die Schultern. »Wie das Leben so spielt.«
Marc wunderte sich darüber, dass Heinen sich in der Lebensgeschichte der Reicherts so gut auskannte, andererseits war Johanna Reichert seine Patientin und die beiden verbrachten offenbar viel Zeit miteinander.
»Sie ist sehr schön«, sagte Marc, nur um etwas zu sagen.
Heinen seufzte schwer. »Sie war sehr schön«, korrigierte er dann. »Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Johanna war noch bis vor drei Monaten eine äußerst attraktive Frau. Aber die Krankheit …« Er schüttelte den Kopf und ließ den Satz unvollendet. »Nun ja, ich sage Ihnen das auch nur, damit Sie gleich nicht allzu sehr erschrecken, wenn Sie sie sehen.«
»So schlimm?«, fragte Marc.
»Schlimmer«, seufzte der Arzt. »Sie werden sie nicht wiedererkennen. Johanna weiß das übrigens auch selbst. Sie werden im ganzen Haus keinen einzigen Spiegel finden. Johanna hat sie alle abhängen lassen, damit sie sich selbst nicht mehr ansehen muss. Und wissen Sie was? Ich kann sie sogar verstehen.« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Johanna möchte Sie jetzt sehen«, sagte er unvermittelt. »Sind Sie bereit?«
Marc atmete noch einmal tief durch, dann nickte er. Er folgte Heinen in den ersten Stock, wo der Arzt vor der Tür am Ende des Flurs stehen blieb. Nachdem der Mediziner angeklopft hatte, bedeutete er Marc, kurz zu warten. Er betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Nach wenigen Sekunden öffnete er sie wieder und bat den Anwalt herein.
5
Marc betrat das Zimmer. Als Erstes fiel ihm das riesige Bett auf, das den gesamten Raum dominierte. Es stand an der Wand zwischen zwei geöffneten Fenstern, durch die Sonnenlicht in den Raum flutete. Der Boden war mit hellem Holzparkett ausgelegt, außer einer großen Kommode, zwei Sesseln, einem Fernseher und einem üppigen Blumenstrauß auf dem Nachttisch war das annähernd vierzig Quadratmeter große Zimmer praktisch leer.
Erst als Marc näher kam, sah er Johanna Reichert in dem Bett. Oder besser gesagt das, was von ihr übrig geblieben war.
Heinen hatte nicht übertrieben, was den Zustand seiner Patientin anging: Frau Reichert war nur mit einem Nachthemd bekleidet, das an ihrem ausgemergelten Körper viel zu groß aussah. Ihr leichenblasses Gesicht glich einem fleckigen Totenkopf, über den einige wenige graue Haarflusen gekämmt waren. Die Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen. Am meisten erschrak Marc jedoch über den zusammengekniffenen Mund, der von zahllosen scharfen Falten umgeben war. Marc hatte den Eindruck, als habe sich ein unerträglicher Schmerz tief in diesem Gesicht eingegraben. Eine Ähnlichkeit mit dem Porträt, das im Erdgeschoss hing, war nicht einmal mehr zu erahnen.
O mein Gott, dachte Marc und hoffte im gleichen Moment, dass er es nicht laut ausgesprochen hatte.
Dann hörte Marc die schwache Stimme der Frau. »Bitte, kommen Sie doch näher, Herr Hagen.« Ihr Atem ging scharf und stoßweise. Allein dieser Satz schien sie so angestrengt zu haben wie ein Marathonlauf. Als Marc neben dem Bett stand, reichte Johanna Reichert ihm die Hand. »Danke«, sagte sie. »Danke, dass Sie mir helfen wollen.«
Marc warf Heinen, der schräg hinter ihm stand, einen irritierten Blick zu, doch der Arzt bedeutete ihm nur mit einem kurzen, kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln, nicht näher auf das Thema einzugehen.
Dann drehte er sich um, zog einen der Sessel heran, platzierte ihn direkt neben dem Bett
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