Schwanengesang (German Edition)
habe unerträgliche Schmerzen und wolle sterben. Ich habe den Arzt juristisch beraten und danach genau zwei Mal mit Frau Reichert gesprochen. Das erste Mal drei Tage vor ihrem Tod und dann am Tag ihres Todes. Bei diesen Gesprächen habe ich mich davon überzeugt, dass es Frau Reicherts freier Entschluss war zu sterben. Nur aus diesem Grund habe ich mich schließlich bereit erklärt, ihr bei ihrem Freitod zu helfen.«
Er hielt einen Moment inne. »Aber das war wahrscheinlich ein Fehler.«
»Mit Sicherheit«, übernahm Weskamp die Gesprächsführung. »Wie Sie als Jurist ja sicherlich wissen, kann von einer frei bestimmten Selbsttötung nur die Rede sein, wenn jemand bei seinem Entschluss nicht über etwas Wesentliches getäuscht wird. Und Sie werden uns sicherlich zustimmen, dass es sich um eine sehr wesentliche Täuschung handelt, wenn einem Patienten vorgegaukelt wird, er habe Krebs, und dieser Patient auf diese Weise in den Selbstmord getrieben wird. Der Staatsanwalt ist mit uns vollkommen einer Meinung: Das nennt man dann Mord!«
»Aber ich habe Ihnen doch eben schon erklärt, dass ich mich auf die Auskünfte von Herrn Dr. Heinen verlassen habe!«, protestierte Marc verzweifelt. »Ich bin genauso getäuscht worden wie Frau Reichert. Ich wollte nur helfen, wirklich! Oder können Sie mir einen vernünftigen Grund nennen, warum ich ein Interesse am Tod von Frau Reichert gehabt haben könnte?«
» Einen? « Templin lächelte amüsiert. »Ich kann Ihnen sogar fünfhunderttausend Gründe nennen. Genauso viele Euro hat Frau Reichert nämlich in ihrem Testament als Vermächtnis für Sie angeordnet.«
Marc schnappte nach Luft. Mit geöffnetem Mund starrte er Templin an und erntete dafür einen gespielt mitleidigen Blick. »Aber davon haben Sie natürlich auch nichts gewusst, nicht wahr, Herr Hagen?«, versetzte der Kommissar mit einem spöttischen Unterton in der Stimme.
»Nein, das habe ich nicht«, erklärte Marc bestimmt. »Herr Dr. Heinen hatte mir für meine Hilfe einen Geldbetrag, der allerdings weit unter dieser Summe lag, zugesagt. Ich habe das strikt abgelehnt und lediglich eine Rechnung für eine juristische Beratung ausgestellt, die im dreistelligen Eurobereich liegt. Ich kann mir das Ganze nur so erklären, dass Frau Reichert aus Dankbarkeit über meine Hilfe ihr Testament geändert hat. Aber diese Änderung hat sie ohne mein Wissen vorgenommen.«
»Wann, sagten Sie, haben Sie Frau Reichert das erste Mal getroffen?«
»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Es war Sonntag, der 4. März 2012.«
»Und vorher hatten Sie Frau Reichert nie gesehen und nie mit ihr gesprochen?«
Marc verdrehte genervt die Augen. »Lesen Sie es mir von den Lippen ab: Ich habe Frau Reichert am Sonntag, den 4. März zum ersten Mal in meinem Leben gesehen und an diesem Tag auch zum ersten Mal mit ihr gesprochen.«
»Vorher gab es keinerlei Kontakt?«
»Nein!«
»Wie erklären Sie sich dann, dass Frau Johanna Reichert ihr Testament bereits am 16. Februar, also über zwei Wochen vor Ihrem angeblich ersten Kontakt, geändert und das Vermächtnis für Sie angeordnet hat? Fünfhunderttausend Euro für einen Menschen, den sie angeblich überhaupt nicht kennt. Das ist doch merkwürdig, oder?«
Marc zuckte innerlich zusammen. Dieser Schlag hatte ihn getroffen.
»Das glaube ich nicht«, stammelte er.
Templin warf seinem Kollegen einen auffordernden Blick zu, der daraufhin einige Papiere aus einer Tasche holte. Templin nahm sie ihm ab und reichte sie an Marc weiter.
»Das Testament von Frau Reichert«, sagte er dazu. »Es ist recht umfangreich, schließlich war die Dame sehr vermögend. Für Sie interessant sind die Ziffer IV und das Datum am Ende.«
Marc überflog die Seiten. Er las, dass Johanna Reichert zwei Erben eingesetzt hatte, die jeweils zur Hälfte erben sollten: ihren Neffen Andreas Rottmann und einen Verein mit einem obskuren Namen, den er noch nie gehört hatte und den er sofort wieder vergaß. In Ziffer IV des Testaments fand sich schließlich die Bestimmung, wonach er als Vermächtnis fünfhunderttausend Euro von den Erben erhalten sollte, und am Ende das Datum: der 16. Februar 2012.
Marc gab das Testament an Templin zurück.
»Davon habe ich nichts gewusst«, wiederholte er.
»Natürlich nicht«, sagte Templin süffisant. »Genauso wenig wie von der nicht vorhandenen Krebserkrankung. Es gibt nicht viel, das Sie wissen, Herr Hagen, nicht wahr?«
»Das ist korrekt. Ich bin offensichtlich getäuscht und benutzt
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