Schwanengesang (German Edition)
Soweit ich weiß, haben Sie Frau Reicherts Testament aufgesetzt?«
Er sah Dr. Kröger fragend an, doch dessen Gesicht war nur eine starre Maske.
Nach einigen Sekunden Stille sagte der Notar. »Sie erwarten darauf nicht ernsthaft eine Antwort von mir, oder?«
Marc zuckte unwillkürlich ein Stück zurück. Die Stimmung im Raum war mit einem Schlag merklich abgekühlt. Da es für Marc keine halbwegs sinnvolle Antwort auf Krögers Frage gab, sprach er einfach weiter.
»Nun, da ich das Testament kenne, weiß ich natürlich, dass Sie der Notar waren und Testamentsvollstrecker sind. Und ich weiß auch, dass Sie Frau Reichert etwa zwei Wochen vor ihrem Tod aufgesucht haben, um ihr Testament zu ändern. Es ging um ein Vermächtnis über fünfhunderttausend Euro, das Frau Reichert zu meinen Gunsten aussetzen wollte. Dieses Vermächtnis hat mich in … nun ja, nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten gebracht. Deshalb wäre es für mich eminent wichtig zu wissen, wie Frau Reichert auf die Idee zu diesem Vermächtnis gekommen ist. Tatsache ist nämlich, dass mir Frau Reichert zum Zeitpunkt der Testamentsänderung noch vollkommen unbekannt war.«
Dr. Kröger hob den Zeigefinger. »Einen Moment bitte«, sagte er. Er trat an den großen Schrank rechts von seinem Schreibtisch, öffnete ihn und studierte die Rücken der darin stehenden Bücher, bis er schließlich eines davon herauszog. Er kehrte an seinen Tisch zurück, setzte eine Lesebrille mit Goldrand auf und begann, das Buch durchzublättern. Dann hatte er offenbar die richtige Stelle gefunden, denn er drückte den Zeigefinger auf die Seite.
»Hier haben wir es«, verkündete er. »§ 18 Absatz 1 der Bundesnotarordnung. Ich zitiere: ›Der Notar ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Pflicht bezieht sich auf alles, was ihm bei Ausübung seines Amtes bekannt geworden ist.‹ Und in Absatz 2 heißt es weiter: ›Die Pflicht zur Verschwiegenheit entfällt, wenn die Beteiligten Befreiung hiervon erteilen; ist ein Beteiligter verstorben oder eine Äußerung von ihm nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten zu erlangen, so kann an seiner Stelle die Aufsichtsbehörde die Befreiung erteilen.‹« Kröger schob seine Lesebrille auf die Nasenspitze und blinzelte Marc darüber hinweg an. »Zitat Ende. Mit anderen Worten: Da Frau Reichert verstorben ist, muss ich Sie bitten, sich an meine Aufsichtsbehörde, sprich, den Präsidenten des Landgerichts Bielefeld zu wenden.« Mit einer bedeutungsvollen Geste klappte er das Buch wieder zu.
»Sie verstehen nicht«, protestierte Marc. »Diese Auskunft ist für mich äußerst wichtig. Und ich kann nicht warten, bis der Präsi…«
»Nein, Sie verstehen nicht«, schnitt Kröger ihm das Wort ab. »Ich darf Ihnen in dieser Sache keine Auskunft erteilen. Und damit Ende der Diskussion.«
Marc starrte eine Weile vor sich hin. Er war kurz davor aufzustehen und zu gehen, aber dann startete er noch einen letzten Versuch. »Ich bin vollkommen verzweifelt. Gegen mich läuft ein Ermittlungsverfahren. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei verdächtigen mich, Frau Reichert ermordet zu haben.« Er hob die Hand, um mögliche Einwände sofort abzuwehren. »Ich weiß natürlich, dass das noch ein Grund mehr für Sie ist, mir keine Auskünfte zu erteilen, Tatsache ist aber, dass ich mit diesem Mord nichts zu tun habe. Das heißt, natürlich habe ich etwas damit zu tun, schließlich habe ich ja den tödlichen Medikamentencocktail besorgt und ihn ihr auch gegeben.« Er lächelte unsicher. »Aber davon haben Sie mit Sicherheit schon gehört. Ich meine, so etwas spricht sich ja rum in der Gerichtskantine, nicht wahr?« Er ließ erneut ein Lächeln aufblitzen, aber Dr. Krögers Miene blieb unergründlich. »Also, was ich eigentlich sagen will ist, dass die Polizei denkt, ich hätte Frau Reichert wegen dieses Vermächtnisses umgebracht. Aber das stimmt nicht. Sie denken jetzt wahrscheinlich, das würde ich auch sagen, wenn es stimmen würde, aber ich sage die Wahrheit. Ich habe keine Ahnung, warum Frau Reichert mir diese fünfhunderttausend Euro vermacht hat, obwohl sie mich gar nicht kannte. Und da dachte ich, Sie könnten mir helfen, weil Sie vielleicht wissen, wie Frau Reichert auf diese Idee gekommen ist. Ich brauche diese Information unbedingt. Ich bin vollkommen am Ende, seit Tagen schlafe ich nicht mehr und meine Freundin …«, er merkte, dass ihm die Tränen in die Augen traten, »aber das interessiert Sie ja wahrscheinlich alles
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