Schwanengrab
Zeitverschiebung. Jetlag! Todmüde schleppte ich mich ins Bad und putzte meine Zähne. Oh, wie ich diese Zahnspange hasste. Aber wenigstens musste ich sie nicht mehr lange tragen. Nächste Woche hatte ich endlich den heiß ersehnten Termin beim Kieferorthopäden. Vielleicht hatte ich Glück und konnte mich dann für immer von diesem scheußlichen Ding verabschieden. Ich tappte in mein Zimmer zurück und knipste das Licht aus. Wieder bellte ein Hund, direkt vor dem Haus. Jemand murmelte etwas. Schritte, dann knatterte ein Moped vorbei.
So konnte doch kein Mensch schlafen! Außerdem war mir nun doch zu kalt. Fröstelnd ging ich zum Fenster, um es zu schließen. Die Vorhänge waren einen Spaltbreit offen und ich warf einen Blick auf die Straße. Hinten bei den Mülltonnen nahm ich eine Bewegung wahr. Eine Katze? Nein, da war jemand! Dort, in der Ecke, direkt am Zaun. Sachte schob ich den Vorhang noch ein kleines Stück zur Seite. Ja, jetzt konnte ich es sehen. Eine dunkle Gestalt. Ausgerechnet an der Stelle, an der die Straßenbeleuchtung ausgefallen war. Mehr als eine Silhouette erkannte ich nicht. War das unser Nachbar mit seinem Dackel? Vielleicht brachte er nur den Müll raus. Der Schatten kletterte über den Zaun und verschwand. Herr Hermann von nebenan war bestimmt schon über sechzig. Er würde sicherlich nicht nachts über einen Zaun klettern. Warum auch? Seltsam! Ich drückte das Fenster zu, aber es ließ sich nicht verriegeln. Noch einmalversuchte ich es. Da steckte etwas im Fensterschlitz. Es war ein Zettel, mehrere Male fest zusammengefaltet. Ich öffnete ihn und erschrak!
Hau wieder ab, bevor es zu spät ist.
Entsetzt gab ich dem Fenster einen Schubs und zog den Hebel fest nach unten. Jemand war hier gewesen. Direkt vor meinem Fenster. Ängstlich blickte ich die Straße entlang, aber es war niemand mehr zu sehen. Ich löschte das Licht. So konnte man von außen nicht in mein Zimmer blicken und ich fühlte mich ein wenig sicherer. Vorsichtshalber sperrte ich die Wohnungstür auch noch ab. Ausgerechnet heute war mein Dad nicht da. Warum schrieb mir jemand diese seltsamen Nachrichten? Bereits die zweite an einem Tag? Hatte plötzlich die ganze Welt etwas gegen mich? Aber warum? Nur weil ich neu war? Oder weil ich aus Kalifornien kam? Das war doch absurd.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und spähte noch einmal auf die Straße. Nichts! Mein Herz klopfte wie wild, als ich in mein Bett kroch, und an Einschlafen war natürlich nicht zu denken. Unaufhörlich starrte ich auf die Vorhänge, durch die das matte Licht der Straßenlaterne leuchtete. Was sollte ich tun, falls doch jemand davor auftauchte? Lautlos schlich ich zu meiner Tasche und kramte mein Handy raus. Damit bewaffnet fühlte ich mich ein bisschen wohler. Irgendwann (es war bestimmt schon weit nach Mitternacht) kam endlichmein Vater nach Hause. Sollte ich aufstehen und ihm von dem Vorfall erzählen? Jetzt, wo er da war, spürte ich die Müdigkeit, die mich schlagartig überfiel. Morgen, dachte ich. Dann konnte ich es ihm immer noch sagen.
Kapitel 8
Mein Wecker klingelte schon hektisch auf Stufe drei, als ich endlich erwachte. Ich war so müde, dass ich kaum auf die Beine kam. Der Drohbrief der letzten Nacht und die Vorstellung, dass sich jemand vor meinem Fenster herumgetrieben hatte, schienen mir wie ein seltsamer Albtraum. Zeit, um mir Gedanken darüber zu machen, hatte ich auf jeden Fall nicht. Dazu war ich schon viel zu spät dran. Nicht einmal für die Dusche reichte es. Ich ging ins Bad und zog den gelben Post-it ab, der an der Tür klebte.
»Bin schon los, viel zu tun. Frühstück nicht vergessen. Dad.« Ich frühstückte nie unter der Woche, wie kam er denn auf die Idee?
Vielleicht halfen mehrere Hände voll Wasser ins Gesicht, um endlich wach zu werden? Als Krönung entdeckte ich direkt neben meiner Nase einen Pickel. Ausgerechnet heute, wo ich mich mit Mike treffen wollte. Mussten diese Dinger eigentlich immer dann kommen, wenn man sie am wenigsten gebrauchen konnte? Andererseits: Wann war schon der richtige Zeitpunkt für Pickel?
Nervös dachte ich an das bevorstehende Treffen. Heute Nachmittag würde ich das »Geheimnis Mike« lüften. Endlich würde ich ihn kennenlernen. Den Zettel,auf dem ich mir die Adresse notiert hatte, stopfte ich in meine Hosentasche. Jetzt musste ich aber wirklich los. Der Reifen an meinem Fahrrad war noch immer platt. Mist! Ich hatte gestern völlig vergessen, ihn wieder aufzupumpen. Total außer Atem kam
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