Schwanengrab
Grund, mich einfach umzurennen?«
Neelas Augen ruhten starr auf der Haltestelle. »Ich hatte dich mit jemandem verwechselt.«
»Ach ja? Und mit wem?«
»Veronika.«
Ein rot-weißer Linienbus hielt direkt vor dem Friedhofsportal.
»Der Bus!« Neela rannte los. Mein »Warte doch mal ...« hörte sie gar nicht mehr. Die Türen öffneten sich. Sie stolperte mit ihrem langen Kleid hinein. Weg war sie! Und ich stand hier. Alleine und vollkommen ohne Plan, dafür mit noch mehr Fragen als zuvor.
Veronika! Schon wieder dieser Name. Wer zum Kuckuck war diese Veronika? Und wo konnte ich sie finden?
Veronika – Neela – Mike – Friedhof .... Und ich mittendrin.
Irgendwas war komisch mit Neela, nicht nur ihr Outfit. Auch dieser Ort. Und Mike. Seltsamerweise hatte ich nun doch das Gefühl, als könne dies alles irgendwie zusammenhängen.
Meinen Kopf konnte ich mir aber auch zu Hause darüber zerbrechen. Nun wollte ich nichts wie weg von hier. Ich hatte keine Ahnung, wann der nächste Bus kam. Aber als ich in meine Jackentasche nach meinem Handy fasste, um nach der Uhrzeit zu sehen, griff ich ins Leere. War es mir herausgerutscht? Vorhin bei dem Zusammenprall mit Neela? Mir blieb nichts anderes übrig: Ich musste zurück zu dem steinernen Engel, um es zu suchen.
In der Zwischenzeit waren noch drei Besucher auf dem Friedhof eingetroffen. Alte Männer. Keiner sah so aus, als könnte er Mike heißen. Und keiner sah so aus, als verbrachte er die Nachmittage im Chat. Sie waren allesamt damit beschäftigt, irgendwelche Gräber zu pflegen.
Mein Handy fand ich tatsächlich neben dem verwitterten Engel – direkt in einer Pfütze. Ich wischte feuchte Erde vom Display, die Anzeige flackerte komisch und der Balken des Akkus zeigte mal leer, mal voll an. Nun hatte ich von diesem Ort endgültig genug. Ich ging zurück in Richtung Ausgang, an den vordersten Reihen vorbei. Die Inschriften auf den Steinen waren teilweise kaum noch zu lesen. Mein Blick huschte nur darüber, blieb dann aber an einem Grab haften. Eine rote Rose! Frisch erblüht, als hätte man sie gerade erst dort abgelegt. Sie leuchtete förmlich, genauso wie der weiße Marmor, auf dem sie lag. Glatt poliert, fast makellos. Wie magisch angezogen, ging ich darauf zu. Das Grab war gepflegt. Es wirkte viel jünger als die Gräber rundherum. Eine ordentliche Umrandung kleiner Buchsbüschel und in der Mitte ein Blumenherz. Eine alte Inschrift auf dem Stein, schlecht lesbar, mit einem weit zurückliegenden Sterbedatum. Aber darüber waren frische Buchstaben eingraviert worden, golden ausgefüllt. Kein Geburtsdatum, kein Sterbetag, nur ein Satz: Veronika Henkstel – mit 14 Jahren viel zu früh von uns gegangen . Starr blickte ich darauf. Ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Hier also lag die Antwort auf meine Frage. Hier also war Veronika!
Wie in Trance ging ich zurück zur Bushaltestelle. Veronika Henkstel. Die Bedienung im Cafè – sie hatte mich mit ihr verwechselt. Auch Neela. Sah ich ihr tatsächlich so ähnlich? Aber wer war sie? Veronika ging auf meineSchule, hatte Christoph erzählt. Jetzt hatte dieses kleine Wörtchen »ging« eine ganz andere Bedeutung. Waren deshalb alle so fies zu mir? Weil ich sie an dieses Mädchen erinnerte? Und wie war sie gestorben? Mit vierzehn Jahren. Eine Krankheit? Ein Unfall? Wie lange war sie schon tot? Veronika Henkstel, Veronika Henkstel ... Veronika.
Kapitel 11
Wie lange ich auf den Bus gewartet hatte, konnte ich gar nicht sagen. Als er vor mir hielt, stieg ich wie ferngesteuert ein und löste den Fahrschein. Die ganze Fahrt zurück dachte ich nur an dieses Mädchen und ihr Name spukte in meinem Kopf, als hätte sich Veronikas Geist darin festgesetzt. Bei dieser Vorstellung wurde mir übel. Den Rest der Fahrt konzentrierte ich mich darauf, nach vorne zu blicken. Der Schwindel in meinem Kopf wurde erträglicher.
Es war bereits dunkel, als ich endlich zu Hause war.
»Sam?«, rief mein Vater aus seinem Arbeitszimmer, kaum hatte ich die Wohnung betreten.
»Ja!«
»Wo warst du?«
»Bei einer Freundin!« Warum log ich auch ihn an?
Ich ging direkt in mein Zimmer. Eine Zeit lang tat ich gar nichts, stand nur am Fenster und beobachtete die wenigen Leute, die auf der hell erleuchteten Straße daran vorbeigingen, während ich meinen Gedanken nachhing. Irgendwann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und zog die beiden Briefe unter meinem Laptop hervor.
Du bist hier nicht erwünscht!
Hau wieder ab, bevor es zu spät ist!
Wofür
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