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Schwanengrab

Schwanengrab

Titel: Schwanengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Schwarz
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Grunde genommen wusste ich doch nichts über ihn. Er konnte mir alles Mögliche erzählen. Nicht einmal ein Foto hatte ich. Ich spürte, wie ich rot wurde, als ich mir eingestehen musste, dass ich ihm auch nicht die Wahrheit gesagt hatte. Weder mein Name noch mein Alter noch meine Klasse stimmten. Auch nicht, dass ich schon lange an der Schule war, in der Schulmannschaft Volleyball spielte und eine Freundin hatte. Von Anfang an war alles ein einziges Lügengerüst.
    Ein paar Vögel stoben aufgeregt zeternd in den Himmel. Offensichtlich waren sie durch die alte Frau aufgescheucht worden, die nun ein Stück von mir entfernt Unkraut zupfte. Als der Schwarm langsam aus meinem Blickfeld verschwand, nahm ich eine andere Bewegung wahr. Am anderen Ende des Friedhofs huschte eine dunkle Gestalt hinter einen steinernen, mannshohen Engel.
    »Mike?«, rief ich laut und ignorierte sowohl die Vögel, die erneut protestierten, als auch den vorwurfsvollen Blick der alten Frau, die nun dabei war, ihre mitgebrachten Blumen einzupflanzen.
    »Mike, bist du das?«
    Nur eine Krähe schrie von irgendwo eine Antwort.
    Zögerlich passierte ich das Friedhofsportal und ging in Richtung des Engels. Er stand lächelnd auf einem Steinsockel und hielt einen Strauß Blumen aus niemals verwelkendem Granit in der Hand. Das dunkelgrüne Moos, das sich im Laufe der Jahre darauf angesammelt hatte, gab dem Strauß eine traurige Lebendigkeit. Mit der anderen Hand deutete der Engel auf einen von wildem Unkraut überwucherten Grabhügel, als wolle er mich dorthin einladen. Ich schauderte. Friedhöfe gehörten wohl zu den letzten Orten, an denen ich mich gerne freiwillig aufhielt. Das Einzige, was ich damit verband, war tiefe Trauer. In Berkeley hatte ich nur zweimal den Friedhof besucht – zur Beerdigung meiner Mutter und zum Abschied, kurz bevor ich nach Deutschland aufgebrochen war. Einen dicken Strauß roter Rosen hatte mein Dad hingelegt und zum letzten Mal sanft über den weißen Stein gestrichen. Als ich das sah, wurde mir klar, dass er nicht vorhatte, jemals wieder nach Kalifornien zurückzukehren. Wie immer hatte er auch damals nicht geweint. Jetzt waren die Rosen schon lange verwelkt, und dennoch würde das Grab in Amerika niemals so verwildert aussehen wie der Hügel, der nur noch wenige Schritte vor mir lag. Meine Grandma würde sich darum kümmern. Auch sie vermisste ich und Doc, ihren dicken Labrador.
    Meine Schritte hatten sich verlangsamt. Es kostete mich unglaubliche Überwindung, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Engel lächelte mir steinern entgegen.
    »Mike?«, fragte ich leise, fast flüsternd. Plötzlich hatte ich Angst, er könne mir antworten. Er könne hinter einem Grabstein auftauchen und sich vor mich stellen. Wieder wurde mir deutlich bewusst, dass Mike nur eine anonyme Bekanntschaft aus dem Internet war. Unsicher blickte ich mich um. Die alte Frau war noch immer da und goss nun die Blumen. Wenigstens war ich nicht allein. Irgendwie beruhigte mich ihre Anwesenheit.
    »Mike?« Meine Finger fuhren über den rauen Stein. Sie zitterten leicht. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag – bum, bum, bum.
    Plötzlich sprang eine Gestalt in einem bodenlangen, dunkelblauen Gewand hinter dem Engel hervor. Ein Schrei – es war mein eigener. Ein Ellbogen, ein Stoß, direkt in meine Rippen. Ich japste schmerzlich nach Luft, stürzte nach hinten und landete zwischen den Unkrautbüscheln auf dem Grabhügel.
    Die dunkle Gestalt rannte davon in Richtung Ausgang.
    Ich rappelte mich auf und lief hinterher. Wie ein Football-Spieler auf dem Feld umrundete ich Grabsteine und Gräber, als wären es Gegenspieler, die mich aufhalten wollten.
    Ich war schnell, schneller als der Typ vor mir.
    »MIKE!« schrie ich laut. Aber ohne Erfolg. »BLEIB STEHN!« Die Gestalt lief weiter.
    Ärger machte sich in mir breit. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Erst versetzte er mich im Eiscafé und jetzt spielte er mit mir Fangen – auf dem Friedhof!Der Ärger ließ mich noch schneller werden. Ich holte ihn ein, das lange Gewand schien ihn zu behindern. Ein Junge im Kleid?, schoss es mir in den Sinn. Aber ich überlegte nicht lange, sprang nach vorne und packte zu. Stoff zwischen meinen Fingern ... Ich riss daran.
    Gemeinsam fielen wir zu Boden – Touchdown!

Kapitel 10
    Lange, schwarze Haare fielen über meine Finger, die sich noch immer um die Kapuze krallten. Kein Mike!, dachte ich kurz.
    Die Augen des Mädchens, das unter mir lag und mich fassungslos

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