Schwanengrab
sofort.
Mikes Idee war gar nicht so schlecht. Endlich würde ich persönlich mit ihm sprechen können. Ich war schon gespannt auf seine Stimme. Leider wurde ich wieder enttäuscht. Das Signal für eine eingegangene SMS ertönte, ich öffnete die Nachricht und las: »mike @sunny.de«, dann ein Link zu einem E-Mail-Anbieter und eine Zahlenkombination. Anscheinend das Passwort.
Was sollte das denn nun wieder? Hatte er tatsächlich extra eine E-Mail-Adresse eingerichtet, nur um auf diesemWeg mit mir zu sprechen? Na gut. Ich öffnete das notwendige Programm und meldete mich an. Links unten entdeckte ich seinen Namen. Jetzt verstand ich: ein privater Livechat.
Sunny: Was ist denn los?
Dann drückte ich auf Senden. Ich musste kaum warten, seine Antwort kam sofort.
Mike: Was hast du auf dem Friedhof gesehen?
Was wollte er hören?
Sunny: Gräber!
Mike: Und welche?
Interessierte es ihn, ob ich Veronikas Grab gefunden hatte? War es das, was er mir zeigen wollte?
Sunny: Was wolltest du mir zeigen?
Mike: Gräber!
Er war nicht dumm. Aber warum tat er so geheimnisvoll? Sollte er doch einfach sagen, was ihm unter den Nägeln brannte. Schließlich war diese Friedhofsgeschichte seine Idee gewesen.
Sunny: Und welche?
Mike: Mit Grabstein und Blumen!
Ich wurde wieder wütend. Wollte er mich für dumm verkaufen? Was für ein Spiel spielte er da eigentlich?
Sunny: Hör auf, um den heißen Brei zu reden. Sag einfach, was du willst!
Keine Antwort. Jetzt reichte es mir.
Sunny: Ich habe Veronika Henkstels Grab gesehen. Wolltest du mir das zeigen?
Seine Antwort kam nach einer kleinen Ewigkeit.
Mike: Du hast sie gefunden?
Sunny: Wer ist sie?
Mike: Ein Mädchen. Sieht dir ziemlich ähnlich, Sam!
Ich erschrak. Er hatte meinen richtigen Namen genannt. Woher wusste er, wer ich war? Hatte er mich auf dem Friedhof doch heimlich beobachtet? Oder sogar schon im Sorini?
Sunny: Warum nennst du mich Sam?
Mike: Warum sollte ich dich nicht so nennen? Ich weiß, wer du bist. Die Neue aus Amerika. Ich habe mir das gleich von Anfang an gedacht. Du hast dich schon bei unserem ersten Chat verraten. Die Volleyball-Mannschaft trainiert nicht am Dienstag, sondern am Montag.
Sunny: Kann doch mal passieren, dass man einen Wochentag verwechselt!
Mike: Kann schon. War aber nicht so. Außerdem hast du dich gerade vorhin wieder verraten. Jeder, der auf unsere Schule geht, kennt Veronika Henkstel. Jeder! Nur du nicht.
Oh Mann, wie blöd war ich eigentlich? Daran hatte ich natürlich nicht gedacht.
Sunny: Okay! Du hast recht. Ich wollte mich nicht gleich als die Neue zu erkennen geben. Mein erster Tag auf der Schule war nicht so toll. Gut! 1 : 0 für dich! Jetzt sag mir, wer du in Wirklichkeit bist. Du heißt doch sicher auch nicht Mike, oder?
Mike: Wie kommst du denn darauf? Lassen wir es beim 1 : 0 . Da kommt sicher noch ein Punkt für michdazu. Du wolltest etwas über Veronika erfahren. Interessiert es dich noch?
Sunny: Ja!
Was für eine Frage! Natürlich wollte ich wissen, wer Veronika war und warum ich immer mit ihr verwechselt wurde. Schließlich ging es mich doch etwas an, wenn ich eine tote Doppelgängerin hatte.
Kapitel 12
Mike: Veronika Henkstel war auf unserer Schule.
Sunny: Und was ist mit ihr passiert?
Ich platzte fast vor Neugierde.
Mike: Sie hatte diesen Sommer einen Unfall und ist dabei gestorben.
Ein tiefer Stich bohrte sich in meine Brust. Ungefähr dort musste mein Herz liegen. Diesen Sommer. Der Sommer, der auch mein Leben verändert hatte.
Sunny: Wann?
Meine Hände zitterten.
Mike: Juni!
Juni! Am liebsten hätte ich geschrien. Alles in mir versteifte sich. Ich schnappte nach Luft. Die Erinnerungen der vergangenen Monate kamen zurück. Der heiße Junitag in Berkeley! Wie in einem Schnelldurchlauf erlebte ich alles noch einmal. Hitze! Meine Freunde mit mir im Klassenzimmer. Der Cop vor der Tür. Meine Mutter! Der Fahrer eines Trucks, der eingenickt war. Ein total zerstörtes Auto. Mein Vater, meine Grandma, Tränen, Trauer. Ein offenes Grab, in das ich eine weiße Lilie warf. Dann die dicke, dunkle Erde, die auf den Sarg geschaufelt wurde. Klonk, klonk, klonk hörte ich die harten Brocken, die auf den Holzdeckel fielen. Darunter lag meine Mutter, zugedeckt für immer.
Ich konnte meinen Bildschirm nur noch verschwommen sehen, spürte die Tränen, die meine Wangen herunterliefen, und wischte sie energisch weg.
Mike: Bist du noch da, Sunny? Ich darf dich doch so nennen, oder? Gefällt mir, dein Login. Hast du sonst
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