Schwanengrab
Stattdessen stand Neela plötzlich vor mir.
Sie starrte mich vorwurfsvoll an. Ihr weinrotes Samtkleid reichte bis zu den nackten Zehenspitzen. Das schwarze Haar hatte sie an den Seiten hochgesteckt, ansonsten hing es locker über ihre Schultern. Wie schon auf dem Friedhof waren ihre Augen dunkel geschminkt und bildeten einen starken Kontrast zu den fast weißen Wangen. Neelas blasse, blutleere Lippen sahen aus, als hätten sie gerade ein Date mit einem Vampir gehabt.
»Was willst du denn hier?«, fragte sie barsch.
»Ich muss dich ein paar Dinge fragen«, erwiderte ich und schlang meine Arme um mich. Ich zitterte und meine Zähne begannen zu klappern.
»Du bist klatschnass. Schon mal was von Telefon gehört?«
»Wir haben keins!«
Neela blickte mich an, als käme ich aus der Steinzeit.
»Noch nicht!«, ergänzte ich schnell. »Wir wohnen noch nicht lange hier und mein Vater schafft es irgendwie nicht, den Telefonanschluss zu beantragen. Außerdem wollte ich dich persönlich sprechen.«
Sie nickte nachdenklich. »Vielleicht kommst du erst einmal rein. Aber zieh bitte die Schuhe aus. Wie du siehst, legt meine Mutter sehr viel Wert auf Sauberkeit.«
Ich nickte. Staub und Schmutz suchte man bei den Trautmanns vergeblich.
»Ist deine Mutter auch so pingelig?«, fragte sie mich.
»Sie ist ... Im Juni hatte sie einen Autounfall und ist dabei gestorben.« Diese Worte waren bitter wie Galle und brannten in meinem Hals. Warum erzählte ich es ihr überhaupt? Ich kannte sie doch gar nicht.
»Im Juni«, wiederholte Neela nachdenklich und wies mich dann durch die breite Flügeltür in einen großen, hallenartigen Raum, der bestimmt halb so groß war wie unsere komplette Wohnung. Von da aus führte eine gewundene, weiße Treppe nach oben. Als ich Neela in den ersten Stock folgte, versanken meine nackten Füße in dem weichen, cremefarbenen Teppichbelag der Stufen.
Ihr Zimmer bildete das krasse Gegenteil zum Rest des Hauses. Die Wände waren brombeerfarben, an den beiden großen Fenstern hingen orientalische Vorhänge, die mit kleinen Seidenschmetterlingen verziert waren. Über ihrem Bett hatte Neela einen indischen Schirm befestigt, auf dem Elefanten und Palmen gestickt waren. Daneben ein Traumfänger. In einer Ecke hing ein Windspiel,das bei jedem Luftzug einen lang gezogenen, feinen Glockenton erklingen ließ. Samtbezogene Sitzkissen lagen auf dem Boden auf einem flauschigen Teppich, in dessen Mitte ein Tablett mit einer Teekanne auf einem Stövchen stand. Neelas CD-Player spielte eine seltsame Melodie, die an ein Märchen aus »Tausend und eine Nacht« erinnerte. Überall standen Kerzen und erhellten den Raum mit ihrem weichen Licht. In einer Ecke glimmten Räucherstäbchen, daneben stand eine Klangschale, und an der Tür entdeckte ich ein großes Peace-Zeichen, darüber den Spruch Live your dream . Es gefiel mir, auch wenn ich selbst nie auf die Idee käme, mein Zimmer so einzurichten.
»Vielleicht ziehst du dich erst einmal um, bevor du dich noch erkältest«, schlug Neela vor und öffnete eine Tür. Sie besaß ein eigenes Bad mit großer Eckwanne und separater Dusche. Auch hier hatte sie alles reich verziert und auf dem Regal neben dem Spiegel brannten ebenfalls Kerzen. Es war sehr gemütlich. Ich rubbelte meine Haare mit einem Handtuch trocken und nahm die Klamotten entgegen, die mir Neela durch den geöffneten Türschlitz reichte. Dankbar zog ich mich um und legte meine nassen Sachen über den Rand der Badewanne. Jetzt fühlte ich mich wirklich wohler. Als ich Neelas Zimmer wieder betrat, hielt sie mir eine dampfende Tasse Tee entgegen. Sie selbst hatte sich auch welchen eingeschenkt. Er roch nach Vanille.
»Danke!«
»Setz dich.« Neela hatte es sich im Schneidersitz aufeinem dicken Kissen bequem gemacht. Auf einem anderen nahm ich Platz.
»Was willst du von mir?« Sie klang misstrauisch.
»Ich muss dich etwas über Veronika fragen. Veronika Henkstel!«
»Hab ich mir schon gedacht. Aber dass du deswegen ausgerechnet zu mir kommst, hätte ich nicht vermutet.« Sie angelte sich einen der Kekse vom Tablett und blickte mich erwartungsvoll an.
Dann begann ich zu erzählen, von den anderen in der Schule, die mich alle anstarrten, als wäre ich Veronikas Geist höchstpersönlich, von Caro und von Geli, den Drohbriefen, und schließlich erzählte ich auch von dem seltsamen Zettel an meinem Fahrrad. Es sprudelte einfach aus mir heraus. Neela nippte an ihrem Tee und nickte ab und zu.
Als ich fertig war, blickte
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