Schwanengrab
»Ja!« Seine Stimme klang plötzlich ganz anders. »Sie ist ...«, er stockte und blickte nach unten auf seine Schuhspitzen.
»Ich weiß, was mit Veronika passiert ist«, kam ich ihm zuvor. Wieder zuckte er zusammen. »Sie ist bei einem Schulausflug ums Leben gekommen.«
»Ja, das ist richtig. Es war eine schwere Zeit für uns alle. Nicht nur für die Schüler, auch für uns Lehrer. Ich bin froh, dass nun alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Darum wäre ich dir auch sehr dankbar, wenn du Veronikas Namen vor den anderen nicht erwähnst.«
»Aber ...«, begann ich unsicher.
»Es reißt bloß alte Wunden wieder auf. Und die Toten soll man ruhen lassen.« Er heftete seinen Blick auf mich und klang dabei genauso wie Mike. So etwas hatte der auch zu mir gesagt.
»Wie geht es deinem Vater? Hat er sich schon gut eingelebt?«, wechselte er abrupt das Thema.
Mein Dad? Was hatte er denn mit dem am Hut? »Er ist okay.«
»Ist er viel unterwegs?«, fragte er mich.
Warum wollte er das wissen? »Ja! Er arbeitet viel, kommt oft spät heim oder bleibt gleich über Nacht in der Agentur.«
Auf Herrn Simons Stirn zuckte ein Muskel. Er fasste wieder nach meiner Hand, bevor ich sie zurückziehen konnte, und hielt sie fest. »Wenn irgendetwas ist oder wenn ich etwas für dich tun kann, dann lass es mich wissen. Hier ist meine Visitenkarte mit meiner Privatnummer, du kannst mich jederzeit anrufen. Auch nachts.«
Warum, um Himmels willen, sollte ich meinen Lehrer zu Hause anrufen wollen und dann auch noch mitten in der Nacht? Irritiert wand ich meine Finger aus seiner Hand und steckte die Karte in meine Hosentasche.
»Also gut, Sam. Wenn sonst nichts weiter ist, dann wünsche ich dir ein erholsames Wochenende.«
»Danke, Ihnen auch.«
Er öffnete mir die Tür und ich trat schnell an ihm vorbei auf den Flur.
»Bye!«, sagte ich knapp.
»Ciao! Und denk an die Theaterprobe am Montag. Dein Entwurf für das Bühnenbild ist sehr gelungen. Weiter so!«, rief er mir hinterher.
Ich lief die Treppe hinunter, über den Schulhof, der nun schon vollkommen leer war, und eilte zu meinem Fahrrad. Es stand unbeschädigt an seinem gewohnten Platz. Aber ein Zettel hing an meinem Lenker. Nicht schon wieder, dachte ich erschrocken. Also war mein Versteck doch nicht so geheim, wie ich gehofft hatte.Hastig riss ich den Zettel ab und faltete ihn auseinander. Es war kein Drohbrief, wie ich befürchtet hatte, nur ein kurzer Text in einer krakeligen Handschrift: Neela weiß mehr. Keine Unterschrift, nichts sonst. Neela! Schon wieder diese Neela! Was wusste sie mehr? Und wer zum Kuckuck hatte mir diesen Brief an den Lenker gehängt? Warum konnte der- oder diejenige nicht einfach mit mir sprechen? Ich hatte mich nur mit Christoph über Neela unterhalten. Bestimmt war dieser Hinweis von ihm. Vielleicht war ihm noch etwas eingefallen, was Neela mir erzählen konnte, und er hatte keine Zeit gehabt, auf mich zu warten, weil er Nachhilfe geben musste. Anscheinend fehlte ihm sogar die Zeit, seinen Namen unter die Notiz zu setzen, oder er hatte es einfach vergessen. Sicher war es so. Morgen würden wir uns treffen, dann konnte ich ihn ja fragen. Jetzt musste ich erst Neela noch einmal sehen, das stand fest. Aber wie sollte ich das anstellen? Ich wusste doch nicht einmal, auf welche Schule sie ging. Nicht einmal ihren richtigen Namen kannte ich. Im Sekretariat würde ich sicher keine Adresse erhalten. Datenschutz! Neela hatte mir doch erzählt, dass sie sich öfter auf dem Friedhof herumtrieb, weil sie diesen Ort »mochte«. Vielleicht würde ich sie dort treffen. Ich musste es zumindest versuchen. Kurz entschlossen schwang ich mich auf mein Fahrrad und radelte direkt zur Bushaltestelle.
Während der Fahrt grübelte ich über das nach, was ich gehört hatte. Veronika war bei einem Schulausflug gestorben,an einer allergischen Reaktion. Und Neela wusste mehr darüber, obwohl sie gar nicht in diese Klasse ging. Sie war also bei dem Ausflug damals gar nicht dabei gewesen – oder etwa doch? Waren Neela und Veronika Freundinnen gewesen? Schließlich hatten sie gemeinsam mit Christoph Schwanensee bearbeitet. Erst jetzt wurde mir das bewusst. Neela, Veronika und Christoph. So wenigstens hatte er es mir erzählt. Darum kannte er sich so gut mit dem Stück aus.
Endlich hielt der Bus. In der Zwischenzeit hatte es wieder leicht zu nieseln begonnen, was meine Laune erheblich verschlechterte. Die Chance, Neela bei Regen auf dem Friedhof zu treffen, war nicht
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