Schwanengrab
sterben? Ein wunderschönes, trauriges Lied mit ihrer letzten Kraft«, erzählte Neela und blickte mich aus ihren schwarzen Augen nachdenklich an. »Und nun ist ihr Gesang verstummt und sie liegt ... in ihrem Schwanengrab.«
»Schwanengrab«, flüsterte ich. »Ich hätte es nie entdeckt. Nur wegen der roten Rose auf dem Grabstein ist es mir aufgefallen.«
»Eine rote Rose ...«
Ich schüttelte den Kopf. Mir wurde kalt und ich klammerte mich an meine Tasse Tee.
Kapitel 19
Auf Neelas Stirn hatte sich eine tiefe Falte gebildet. »Als Schwanengesang bezeichnet man traditionell das letzte Werk eines Künstlers. Der Abschiedsauftritt, sozusagen der Abgesang. Es sind die letzten Laute vor dem Tod«, flüsterte sie.
Ich bekam Gänsehaut.
»Genau wie bei Veronika«, sagte Neela bitter. »Ich hatte es geträumt. Einige Tage bevor sie starb, habe ich von zwei Schwänen geträumt. Einem weißen und einem schwarzen – ein Zwillingspaar. Sie haben gemeinsam ein Lied gesungen und sich anschließend beide in Veronika verwandelt.« Sie goss sich Tee nach.
«Und weiter?«, drängte ich.
«Nichts weiter. Ich bin aufgewacht. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, es könnte etwas passieren.«
»Das war doch nur ein Traum.«
»Oh nein! Es gibt nicht nur Träume! Sie haben immer eine tiefere Bedeutung. Wenn man von schwarzen Schwänen träumt, sind das Unglücks- oder Todesboten.«
Ich runzelte die Stirn. »Das kenne ich nur von schwarzen Katzen.«
»Die auch!«, sagte Neela bestimmt. »Wenn dir einmal eine über den Weg läuft, dann verkriechst du dich am besten für den Rest des Tags in deinem Bett.«
Ich lachte. Allerdings nur kurz, denn plötzlich starrte mich Neela mit weit aufgerissenen Augen an, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. Sie streckte ihre Hand aus und fasste leicht meinen Arm.
»Was ist?«, fragte ich irritiert. Neela blickte mich an, als stünde Veronikas Geist hinter mir. Unsicher drehte ich mich um, aber da war nur das Peace-Zeichen an der Tür.
»Der Traum ...!«, sagte sie leise. »Verstehst du denn nicht?«
Ich verstand tatsächlich null.
»Ich habe von zwei Schwänen geträumt und von zwei Mädchen. Damals dachte ich, es wäre zweimal Veronika, aber jetzt ... Vielleicht warst du eine davon«, flüsterte sie.
Ich schüttelte schnell ihre Hand ab. Das war mir jetzt entschieden zu gruselig.
»Quatsch!«, sagte ich energisch, um meine eigenen Befürchtungen zu verscheuchen. »Du kanntest mich damals doch gar nicht.«
»Das ist bei Träumen auch gar nicht notwendig. Wenn du wirklich eine von den beiden bist, dann ...«, gab Neela zurück und ihre Stirn legte sich in tiefe Falten, »... dann bist du ernsthaft in Gefahr!«
Mir war das Ganze zu viel. »Ach Blödsinn, Neela. Ich habe schon oft wirres Zeug geträumt, besonders in letzter Zeit. Voriges Mal zum Beispiel, da habe ich von meiner Mutter geträumt.«
»Vielleicht möchte sie dir eine Botschaft übermitteln. In deinen Träumen kann sie es.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst an Gespenster?«
Neela lächelte. »Gespenster? Unsinn! Deine Mutter hat hier vielleicht noch etwas zu erledigen, bevor sie endgültig gehen kann.«
»Ja klar!« Das war doch sicherlich ein dummer Scherz? Neelas Gesichtsausdruck blieb ernst.
»Veronika hat das so gemacht«, sagte sie leise. Ihr Blick ging an mir vorbei zur Tür. Irritiert sah ich mich wieder um. Ich rechnete jederzeit damit, Veronikas Geist zu begegnen. Eine Gänsehaut jagte über meinen Rücken.
»Schluss jetzt, Neela. Mit so was macht man keine Scherze.«
»Das ist kein Scherz.«
»Ach ja? Du willst mir doch jetzt nicht weismachen, dass Veronika hier in der Nacht herumspukt ...« Ich beendete den Satz nicht.
»Ach Quatsch. Sie erscheint in meinen Träumen.«
»Hör auf damit.«
»Es sind Botschaften, die uns die Verstorbenen auf diese Weise zukommen lassen.« Jetzt nervte Neela mich aber gewaltig.
»Du spinnst doch!« Ich dachte an den schrecklichen Traum, als ich von etlichen Wespen gestochen wurde, bis ich schweißgebadet aufwachte. Was, bitte schön, sollte das weiterhelfen, außer vielleicht, dass man frühzeitig aus dem Bett kam und noch eine Menge Zeit zum Duschen hatte, bevor die Schule losging. Was sollte sich denn darin bitte für eine Botschaft verbergen?
»Du musst deine Träume nur richtig deuten. Natürlich kann man nicht alles eins zu eins interpretieren. Aber wenn du Hilfe dabei brauchst, dann komm zu mir. Ich bin echt gut.«
»Ja, danke! Ich werde es dich wissen lassen,
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