Schwanengrab
und zwar so schnell wie möglich. Zu Hause streifte ich hastig meine Jacke ab. Mein Vater war noch nicht da. Gut! Ich hastete in mein Zimmer und warf den Computer an. Warum brauchte er ausgerechnet heute so lange? Während ich wartete, zog ich mir eine frische Hose und einen warmen Pullover über und rubbelte meine Haare notdürftig trocken.
Endlich! Ich öffnete die Internetseite der Schule und klickte mich zur Theatergruppe durch. » Schwanensee – eine moderne Neuinszenierung mit musikalischen Elementen von Pjotr Iljitsch Tschaikowski« las ich und überflog den Text, bis ich fand, was ich suchte:
Idee und Buch: Veronika Henkstel, Sandra Trautmann und Christoph Wagner. Bingo! Jetzt hatte ich sie gefunden. Sandra Trautmann, das war also ihr richtiger Name. Sie hatte recht, Neela passte wirklich besser zu ihr. Auf der Internetseite der Telefonauskunft fand ich natürlich mehrere Trautmanns, aber nur einen Doktor.Es war eine zweite Telefonnummer unter derselben Adresse vermerkt. Also musste er die Praxis in seinem Privathaus haben. Das lief ja besser, als erwartet. Ich gab die Adresse in den Routenplaner ein. Neela wohnte gar nicht so weit weg von mir. Mit dem Fahrrad konnte ich es leicht in einer Viertelstunde schaffen. Ein Blick auf die Uhr: Es war erst kurz nach sechs.
Schnell kritzelte ich eine Nachricht für meinen Dad auf einen Zettel und hängte ihn an die Garderobe, dann eilte ich nach draußen. Die Straße war wie leer gefegt. Kein Wunder, bei dem Wetter.
Ich kam in eine Gegend, in der nur Einfamilienhäuser standen, mit großen Gärten und teuren Autos in den Einfahrten. Alles war sehr gepflegt. Als ich endlich Neelas Haus erreichte, war ich bis auf die Knochen nass. Ich stand vor einer alten Villa. An der großen weißen Eingangstür war ein massiver Türklopfer, der so makellos glänzte, dass er sicher nur zur Zierde diente. Links und rechts des Eingangs standen zwei dicke Blumentöpfe mit Buchsbäumen. Ein Messing-Schild, auf dem »Praxis« stand, zeigte nach links. Darunter fand ich eine Klingel mit der Aufschrift »Trautmann«. Ich drückte energisch darauf. Wenige Sekunden später ging hinter der Tür das Licht an. Schritte waren zu hören.
Eine Frau, ungefähr im Alter meiner Mutter, öffnete. Sie trug ein himmelblaues Kostüm mit goldenen Knöpfen und hatte ihr blondes Haar zu einem festen Knoten nach oben gesteckt. Verwundert legte sie ihre Stirn inFalten. Ich musste schrecklich aussehen, klitschnass und wahrscheinlich auch von oben bis unten mit Schmutz bespritzt. Aber das konnte ich jetzt nicht ändern!
»Frau Trautmann?«
»Bin ich. Und wer, bitte schön, bist du?«, fragte sie streng. Ihre perfekt geschminkten roten Lippen wurden schmal.
»Sam ... ähm, Samantha ... Entschuldigung! Kann ich bitte Neela sprechen?«
»Sandra ist in ihrem Zimmer!« Sie betonte den Vornamen ihrer Tochter. Es klang, als könne sie den Namen Neela nicht besonders gut leiden.
Widerwillig ließ sie mich eintreten, wobei sie einen vernichtenden Blick auf meine nassen Schuhe warf. »Warte hier, bitte! Ich werde sehen, ob Sandra Zeit hat.« Frau Trautmann drehte sich um und stolzierte durch eine breite Flügeltür, die den Empfangsraum vom Rest des Hauses abtrennte. Kurz hörte ich noch ihre hochhackigen Schuhe auf den weißen Marmorfliesen klackern. Mir war kalt und ich war wirklich pudelnass. Unter meinen Schuhen sammelte sich eine schmutzige Pfütze. Ich schniefte. Meine Nase lief und ich hatte nicht einmal ein Taschentuch. Wahrscheinlich sah ich ziemlich erbärmlich aus und in dem imposanten Vorraum, der nur aus weißem Marmor bestand, fühlte ich mich auch so. Zwei hohe, runde Säulen stützten links und rechts die gewölbte Decke, dazwischen stand eine Palme und gegenüber hing ein Ölgemälde in einem dunklen, mit Gold verzierten Rahmen. Der Leopard, derdarauf auf einem roten Samtkissen saß, leckte sich das Maul, als überlegte er gerade, ob er schon satt war oder den nächsten Besucher zum Nachtisch verspeisen wollte.
Ich schluckte.
Die Praxis von Herrn Trautmann schien erfolgreich zu sein. Irgendwie passte Neela da gar nicht hinein. Frau Trautmann hatte zwar Ähnlichkeit mit ihrer Tochter, aber sie war ein vollkommen anderer Typ. Ich hätte Neela eher in einem kleinen Wohnhaus am Stadtrand vermutet, inmitten von selbst angepflanzten Bio-Tomaten, einer Horde Katzen und glücklichen Hühnern.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich das Klackern der Schuhe wieder hörte. Doch Frau Trautmann erschien nicht.
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