Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Weinglas, damit es echt aussah. Und dann habe ich vor Aufregung mein Glas umgestoßen. Blutroter Traubensaft auf der weißen Damasttischdecke. Meine Mutter ist hysterisch aufgesprungen und zu dem Schrank im Wohnzimmer gelaufen. Sie wusste wohl, dass Onkel Marius dort die Tischdecken aufbewahrt. Marius ist hinter ihr her, hat sie angebrüllt, sie solle von seinem Schrank wegbleiben. Er ist völlig ausgerastet. Meine Mutter fing an zu heulen, und mein Vater verpasste mir eine Ohrfeige. ›Das ist alles deine Schuld!‹, schrie er. ›Du verdirbst uns allen das Weihnachtsfest!‹« Manfred verstummte.
»Wie schrecklich«, sagte Katrin mitfühlend.
»Jedenfalls können wir davon ausgehen, dass Marius von der Mumie wusste. Er wollte nicht, dass meine Mutter dem Schrank zu nahe kam und zufällig das Versteck entdeckte.«
Katrin trat hinter ihn und schlang ihre Arme um Manfreds Bauch. »Das muss noch lang nicht heißen, dass dein Onkel ein Pädophiler war, der ein kleines Mädchen entführt hat. Es kann jede Menge Erklärungen dafür geben, wie die Kleine in den geheimen Raum gekommen ist.«
Manfred drehte sich zu ihr um. »Ach ja, und welche?«
*
Ein Mann stand vor dem Haus und rauchte, als sie in die Hofeinfahrt bogen. Er war dunkelhaarig, schlank und ein bisschen zu schick gekleidet für das Landleben. Manfred verzog das Gesicht. Dieser junge Großstadtfuzzi würde nun also in seiner Familiengeschichte herumschnüffeln. Wunderbar.
Sie stiegen aus. Gerade als sie die Haustür erreichten, warf der Mann die Kippe auf den Boden und trat sie aus. Er hob den Blick, lächelte Manfred unverbindlich an und sah dann zu Katrin.
Seine Augen wurden groß, ungläubig starrte er sie an. »Katrin? Ich fasse es nicht. Mensch, was machst du denn hier?«
Manfred blickte neugierig zu Katrin. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Das könnte ich genauso gut dich fragen!«
»Mädchen, lass dich umarmen.« Der Fuzzi nahm Katrin in den Arm und küsste sie auf die Wange. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. »Du siehst keinen Tag älter aus. Wie machst du das?«
»Quatschkopf.« Ihre Beschimpfung klang beinahe zärtlich. Wer zum Teufel war dieser Clown?
Manfred räusperte sich.
»Oh.« Katrin wandte sich ihm zu. »Das ist Micha. Michael Breitner. Micha, das ist Manfred Kabritzky.«
Der Typ streckte ihm die Hand entgegen. »Katrin und ich sind zusammen zur Schule gegangen.«
Widerstrebend drückte Manfred die dargebotene Hand. Zusammen zur Schule gegangen. Haha. Er wusste es besser. Katrin hatte ihm von Micha erzählt. Er hatte sogar ein paar verwackelte Fotos gesehen, von irgendwelchen Partys und einem Urlaub in Frankreich. Die beiden waren in der Oberstufe ein Paar gewesen.
»Du bist jetzt Privatdetektivin, habe ich gehört.« Breitner schien Katrin mit den Augen verschlingen zu wollen. »Wir sind also gewissermaßen Kollegen. Ich bin bei der Kripo Bonn.«
Katrin lächelte ihn an. »Fotografin. Eigentlich bin ich Fotografin. Der Rest hat sich so ergeben. Aber damit habe ich aufgehört.«
»Aufgehört?« Er legte den Kopf schief. »Das stimmt ja wohl nicht ganz, wenn ich richtig informiert bin. Fotografin also. Ja, ich erinnere mich. Das wolltest du damals schon werden. Etwas Künstlerisches wolltest du machen. Meine Pläne, zur Polizei zu gehen, waren dir zu spießig.« Er grinste.
»So habe ich das nie gesagt«, protestierte sie.
Bevor Breitner etwas erwidern konnte, trat eine Frau aus dem Haus. Sie trug eine Hose mit Bügelfalte, einen akkurat geschnittenen Pagenkopf und glänzenden roten Lippenstift. Ohne Katrin eines Blickes zu würdigen, reichte sie Manfred die Hand. »Sie müssen Herr Kabritzky sein. KHK Gesine Neumond. Kripo Bonn. Freut mich. Mein Kollege hat sich schon vorgestellt?«
»Hat er«, antwortete Manfred steif. »Guten Tag, Frau Neumond.« Er deutete auf Katrin. »Das ist meine Lebensgefährtin Katrin Sandmann.« Manfred verkniff es sich, bei dem Wort Lebensgefährtin triumphierend zu Michael Breitner zu blicken, obwohl es ihm schwerfiel.
»Gehen wir doch hinein.« Kriminalhauptkommissarin Neumond wartete nicht auf eine Antwort und verschwand wieder im Haus.
Sie ließen sich am Küchentisch nieder. Manfred holte einen Stuhl aus dem Schlafzimmer im ersten Stock, damit sie alle sitzen konnten. Breitner stöberte im Küchenschrank, förderte einen Porzellanfilter, eine Kaffeedose und eine Kanne zutage und brühte Kaffee auf. Neumond breitete einige Unterlagen vor sich auf dem Tisch
Weitere Kostenlose Bücher