Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Deutschland stationierten US-Soldaten war und hier gelebt hat. Aus irgendwelchen Gründen, die für uns keine Rolle spielen, ist sie von daheim weg, vermutlich ohne Ziel losgetrampt und hier gelandet.«
Ein ungutes Gefühl machte sich in Manfreds Magengrube breit. »Und mein Onkel?«
»Nun ja.« Katrin hob die Schultern. »Mal angenommen, nur angenommen, dein Onkel fühlte sich zu kleinen Mädchen hingezogen.«
Manfred zog scharf Luft ein, doch er sagte nichts.
»Das würde erklären, warum er nie heiratete. An erwachsenen Frauen hatte er kein Interesse«, fuhr Katrin fort. »Er war ein anständiger Mann und unterdrückte seinen Drang, so gut es ging. Niemals hätte er ein Mädchen aus dem Dorf angerührt. Doch dann stand eines Tages dieses schwarze Kind vor ihm. Sie war nicht aus der Gegend, das wusste er. Und offenbar vermisste sie niemand. Zudem gehörte sie einer niederen Rasse an, sich an ihr zu vergehen, wäre also nicht ganz so schlimm.«
Manfred schnappte nach Luft. »Katrin! Spinnst du? Was redest du da?«
»Ich versuche, mich in die Gedankenwelt deines Onkels zu versetzen.«
Manfred verschlug es beinahe die Sprache. »Ach ja? Wie kommst du darauf, dass er ein Rassist war?«
Katrin ließ sich nicht beirren. »Wann wurde er geboren? So ungefähr? Weißt du das?«
Manfred verschränkte die Arme. »Zufällig weiß ich es sogar genau. Ich habe meine Mutter begleitet, als sie den Grabstein bestellt hat, schon vergessen? Er war Jahrgang 1925.«
»Also ist er in einer Zeit groß geworden, in der die Vorstellung von einer Herrenrasse völlig selbstverständlich war.«
»Mag sein, aber wir sprechen von den fünfziger oder sechziger Jahren. Oder sogar den Siebzigern.«
»Ach, und du glaubst, die Menschen hier in Deutschland haben ihre Weltanschauung einfach so abgelegt, nur weil sie den Krieg verloren haben? Du weißt doch ganz genau, dass das nicht stimmt.«
Manfred senkte den Kopf. Natürlich wusste er das. Er hatte schließlich Geschichte studiert, bevor er Journalist geworden war. Die Bundesrepublik unter Adenauer hatte sich nicht gerade bemüht, sich von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren. Im Gegenteil, in Politik, Justiz und Polizei arbeiteten zum Großteil noch genau die Männer, die diese Posten schon im Dritten Reich innegehabt hatten. Adenauer selbst hatte zeitlebens viel lieber Kommunisten als Nazis bekämpft. Und mit dieser Haltung hatte er vermutlich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter sich gehabt. Manfred holte tief Luft. »Du meinst also, Marius hat sich das Mädchen geschnappt, es versteckt und als so eine Art Sexsklavin gehalten?«
Katrin nickte. »Bis David Freeman ihm auf die Schliche kam.«
»Und da hat Marius ihn verschwinden lassen«, ergänzte Manfred bitter. »Damit er ihn nicht verraten konnte.«
»Ich fürchte, nur so ergibt es Sinn.«
»Aber wer war David Freeman? Ein Verwandter des Mädchens? Ein Privatdetektiv?«
»Keine Ahnung. Aber ich nehme an, er hat im Auftrag der Familie nach ihr gesucht.«
Manfred nickte nachdenklich. Wenn er die Vorstellung zuließ, war die Theorie sehr plausibel. »Und ich dachte immer, mein Vater wäre das größte Arschloch der Familie gewesen«, murmelte er. Dann durchzuckte ihn ein Gedanke, der ihm beinahe den Atem raubte. »Hat dein alter Freund Michael dir nicht erzählt, dass sie zwischen 1950 und 1975 gestorben ist? Wenn die Familie David Freeman losgeschickt hat, nach dem Mädchen zu suchen, dann haben sie das bestimmt kurz nach ihrem Verschwinden getan, und nicht Jahre später. Das bedeutet, dass sie 1974, als David Freeman sie suchte, noch nicht lang verschwunden war und vermutlich noch gelebt hat.«
»Das könnte hinkommen.« Katrin sah ihn arglos an. Sie hatte offenbar noch nicht begriffen, was das für ihn bedeutete.
Manfred legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich durch das Haar. Tränen brannten in seinen Augen. »1974 war ich zwei Jahre alt«, sagte er tonlos. »Ich habe vielleicht in diesem Wohnzimmer gesessen und Kuchen in mich hineingestopft, während hinter dem Schrank, nur wenige Meter von mir entfernt, ein verängstigtes, gequältes Mädchen im Sterben lag.«
11
Freitag, 18. Mai
Von einem Tag auf den anderen war es heiß geworden, die Sonne stach vom Himmel, der Wind ruhte, Katrin schwitzte auf dem Sitz neben Manfred, obwohl das Fenster geöffnet war und der Fahrtwind sie streichelte. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, doch sie fürchtete, dass es nicht von seinem Fahrstil
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