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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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andere Dinge im Präsidium paßten ihm nicht. Ständig wurden politische Sitzungen abgehalten, und man mußte Berge von Parteiverlautbarungen durcharbe i ten. Einige Beamte, darunter auch einer aus Chens Spez i alabteilung, waren wegen Verwicklung in eine Schmu g gelaffäre vom Dienst suspendiert worden. Ein alter Pa r teikader hatte sich wieder einmal über Chens Gedich t veröffentlichungen mokiert. Das grenzte an Ironie, denn seit einigen Monaten schon hatte ihn die dichterische Inspiration fast völlig verlassen. Ihm fehlten sowohl die Zeit als auch die Energie, und er war über ein paar fra g mentarische Zeilen nicht hinausgekommen. Er fragte sich, wann er sie je zusammenfügen würde.
    Und zu allem Übel hatte man, nach unzähligen Si t zungen und Verhandlungen, nun auch noch die Zusage für Yus neue Wohnung zurückgezogen. Das nahm Chen persönlich. Auch er war überzeugt, daß die Gründe für diesen Rückzieher komplexer waren, als es zunächst den Anschein hatte. Jeder im Präsidium wußte, daß Haup t wachtmeister Yu Oberinspektor Chens Mann war, we s halb die Sache auch für Chen einen enormen Gesicht s verlust bedeutete. Wie schon das Sprichwort sagte: Man muß an die Ehre des, Herrn denken, wenn man seinem Hund einen Tritt versetzt. Chen war es gewesen, der Yu den Wohnungsschlüssel ausgehändigt hatte. Vielleicht war Parteisekretär Li hinter den Kulissen tätig geworden, um Chen eins auszuwischen. Wie auch immer man den Vorfall interpretierte, Chen hatte daraus gelernt, daß sein Einfluß im Shanghaier Polizeipräsidium noch längst nicht groß genug war.
    Eine kleine Auszeit von der Polizeiarbeit würde ihm guttun. Er gehörte nicht zu jenen, die sich beim Nichtstun entspannten, wie Laozi es im Dao Dejing vorführte. In dieser Hinsicht kam ihm Gus Übersetzungsauftrag sehr gelegen, vom Finanziellen einmal ganz abgesehen.
    Der Projektentwurf der New World auf seinem Schreibtisch begann mit einer Einführung in Shanghais Architekturgeschichte seit den Anfängen dieses Jahrhu n derts. Er erkannte rasch, daß der Erfolg dieses Unte r nehmens auf der Beschwörung eines Mythos beruhte, der Nostalgie für den Glitzer und Glamour der dreißiger Ja h re oder, besser gesagt, der Wiederbelebung dieses M y thos. Die Vergangenheit mußte zu einem köstlichen Cocktail aufbereitet werden, der den zahlungskräftigen Kunden der späten neunziger Jahre schmeckte.
    Dennoch blieben ihm derartige Geschäftserfolge rä t selhaft. Als »Kentucky Fried Chicken« das erste Lokal in Shanghai eröffnete, hatte er nur gelacht. Allein die Preise würden die meisten Shanghaier abschrecken, da war er sich sicher gewesen, doch er hatte sich geirrt. »Kentucky Fried Chicken« wurde ein Riesenerfolg, bald hatten we i tere Filialen eröffnet. Vergangenen Sommer, als er mit seiner Cousine Shan über die Gesundheitsprobleme se i ner Mutter sprechen wollte, hatte diese ein Treffen im »Kentucky« vorgeschlagen: »Dort ist es kühl, sauber, und sie haben eine Klimaanlage.«
    Der Vorteil beim Übersetzen war, daß man zunächst relativ mechanisch am Text arbeiten konnte, auch wenn man dessen Inhalt nicht ganz verstand. Er konnte wie bei einem Puzzle Wörter zusammensetzen, ohne sich vorerst um das Gesamtbild kümmern zu müssen. Er hatte gerade eben eine halbe Seite zu Papier gebracht, als leise an die Tür geklopft wurde. Draußen stand ein Mädchen; ihr langes Haar hing über die Schultern herab, und sie trug ein Universitäts-Abzeichen am Revers ihrer grellroten Jacke. Es war Weiße Wolke, die Gu ihm als »kleine S e kretärin« angekündigt hatte.
    »Oberinspektor Chen, ich melde mich zum Dienst«, sagte sie in einer Stimme, so zart wie eine frisch geschä l te Lychee.
    Sie war eine reizende junge Frau mit einem Gesicht, geformt wie ein Wassermelonenkern, mit Mandel äugen und Kirschlippen.
    »Es wäre doch nicht nötig gewesen, daß Generalm a nager Gu Sie herschickt, wirklich nicht.« Chen wußte nicht, was er sagen sollte; zumindest fühlte er sich zu sanftem Pr o test verpflichtet.
    »Aber er bezahlt mich dafür«, entgegnete sie in g e spielter Verzweiflung. »Sie wollen doch nicht, daß ich meinen Job verliere.«
    Bei der Übersetzung konnte sie ihm kaum helfen, da sie, wie er sich erinnerte, im Hauptfach Chinesische Lit e ratur studierte. Was gäbe es sonst für sie zu tun? Vie l leicht könnte sie, wie eine richtige Sekretärin, Telefonate entgegennehmen. Aber kaum jemand rief ihn zu Hause an. Außerdem würde eine weibliche

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