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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Gesellschaft alle nur erdenkl i chen Sabotageakte durch. Yu jedoch schien das etwas weit hergeholt für ein Tatmotiv in der Realität der neu n ziger Jahre.
    Yu entschloß sich aus einem anderen Grund zu einem Gespräch mit Ren. In den Unterlagen war nirgendwo die Rede von einem außergewöhnlichen Kontakt oder einer Konfrontation zwischen Yin und ihm. Es stand dort auch nichts über sein Verhältnis zu den übrigen Nachbarn. Herr Ren schien ein weiterer Außenseiter unter den B e wohnern zu sein, und das machte ihn zu einem objektiv e ren Beobachter. Schon das »Herr« vor seinem Namen deutete darauf hin, daß er von den Mitbewohnern nicht ernst genommen wurde. In den revolutionären Jahren war »Genosse« die vorherrschende Anrede gewesen, und obwohl »Herr« jetzt wieder im Kommen war, schien sich in seinem Fall der ehemalige Status als »Schwarzer« in diesem antiquierten Ehrentitel niederzuschlagen. Die p o litischen Moden änderten sich, doch das Gedächtnis der Menschen war gut.
    Herr Ren war Anfang Siebzig, wirkte aber munter für sein Alter. Er trug einen westlich geschnittenen Anzug mit scharlachroter Seidenkrawatte, der perfekte Kapital i stendarsteller in einer Pekingoper. Erstaunlicherweise erinnerte er Yu an Peiqins Vater, den er nur von einem gerahmten Schwarzweißphoto kannte.
    »Ich weiß, warum Sie heute mit mir sprechen wollen, Genosse Hauptwachtmeister Yu«, sagte Herr Ren in ku l tiviertem Tonfall. »Genosse Alter Liang ist bereits an mich herangetreten.«
    »Genosse Alter Liang hat viele Jahre Dienst als Nac h barschaftspolizist getan. Vielleicht ist er allzu vertraut mit den Klassenkampftheorien des Großen Vorsitzenden Mao. Ich bin ein normaler Polizist, der mit den Ermit t lungen betraut ist, Genosse Ren. Ich muß mit allen B e wohnern hier reden. Jede Information, die Sie mir über Yin geben können, kann für meine Arbeit hilfreich sein. Ich schätze Ihre Berei t schaft zur Kooperation.«
    »Ich kann mir schon denken, was Alter Liang Ihnen über mich erzählt hat«, sagte Herr Ren und musterte sein Gegenüber durch die Brillengläser. »Früher trug ich eine Tafel mit der Aufschrift ›schwarzer Kapitalist ‹ um den Hals, und Yin trug die Armbinde der Rotgardisten. De s halb meint er, ich hätte all die Jahre meinen Haß auf sie gepflegt. Aber das ist Unsinn. Für mich ist das alles vom Winde verweht – vom politischen Wind. Ein Mann me i nes Alters kann es sich nicht leisten, in der Vergange n heit zu leben. Sie war eine Rotgardistin, aber von d e nen gab es Millionen. Die meisten von ihnen haben selbst gelitten, auch Yin. Es wäre sinnlos, sich auf sie zu fixi e ren.«
    »Herr Ren, ich verstehe Ihre Argumentation voll und ganz. Mein Schwiegervater war ebenfalls Kapitalist. Man ist ziemlich unfair mit ihm umgegangen während dieser Jahre, und mit seiner Tochter auch«, sagte Yu. »Aber das heißt nicht, daß sie nachtragend wäre.«
    »Vielen Dank, Genosse Hauptwachtmeister Yu, daß Sie mir das erzählt haben.«
    »Und jetzt stelle ich Ihnen die Frage, die ich allen B e wohnern dieses Hauses stelle: Was hatten Sie für einen Eindruck von Yin?«
    »Dazu kann ich Ihnen leider nicht viel sagen. Unsere Wege haben sich kaum je gekreuzt, obgleich wir im se l ben shikumen wohnten.«
    »Wie ist das möglich?«
    »In einem solchen Haus begegnet man seinen Nac h barn entweder ständig, oder man geht sich aus dem Weg, so wie in meinem Fall. In der Vergangenheit war ich so schwarz, politisch schwarz, daß die Leute mich gemieden haben wie die Pest. Und ich kann ihnen das nicht ve r übeln. Niemand möchte Unglück über sich bringen. Jetzt, wo ich nicht länger ein Schwarzer bin, habe ich mich ans Alleinsein gewöhnt«, s agte Herr Ren, und ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. »Auch sie hat sich a b gesondert, und sie hatte ihre eigenen Gründe dafür. Es war nicht leicht für sie als alleinstehende Frau. Schlie ß lich war sie erst Ende Vierzig und hat sich ganz in ihre Erinnerungen zurückgezogen wie in eine Muschelschale. Kein Licht ist dort hineingedrungen.«
    »Eine Muschel, das ist interessant.«
    »Yin war anders, weil sie sich in ihre Vergangenheit wie in eine Schale einschloß oder, passender, wie in ein Schneckenhaus, denn dieser Rückzugsort stellte zugleich eine unerträgliche Last dar. Die meisten Nachbarn moc h ten sie nicht, weil sie so abweisend war.«
    »Haben Sie sich jemals mit ihr unterhalten, Herr Ren?«
    »Ich hatte nichts gegen sie, aber ich habe den Kontakt mit ihr

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