Schwarz auf Rot
verdächtiger machte, war sein unbestätigtes Alibi für den Morgen des 7. Februar. Er gab an, an jenem Morgen am Bund Tai-Chi geübt zu h a ben, aber natürlich hätte er in Yins Zimmer schlüpfen und sie dort ermorden können, um danach in seine Dachstube zurückzukehren oder an den Bund zu gehen, ohne daß ihn jemand bemerkte. Auch das Geld aus ihrer Schublade hätte er gut gebrauchen können, nachdem das staatliche Stahlwerk mit der Rentenzahlung bereits me h rere Monate im Rückstand war.
Ein Gespräch zwischen Yu und Wan wurde im Büro des Nachbarschaftskomitees anberaumt.
Wan wirkte nicht wie ein Mittsechziger. Er war für seine Generation eher hochgewachsen und trug eine schwarze Maojacke über passenden Hosen. In einem Film aus den sechziger Jahren hätte er mit seinem hoc h geknöpften Kragen und dem zurückgekämmten Haar den typischen mittleren Parteikader verkörpert. Allerdings schien er einen leichten Schlaganfall h inter sich zu h a ben, denn ein Mundwinkel hing leicht nach unten, was den Ausdruck von innerer Spannung in seinem Gesicht noch verstärkte.
Wan war redseliger, als Yu erwartet hatte. Einen B e cher heißen Tee in Händen legte er los: »Die Welt ist aus den Fugen geraten, Hauptwachtmeister Yu. Was soll das mit diesen verdammten Privatunternehmern oder Ü be r nehmern? Schwarzherzige, schwarzhändige Kapitalisten sind das, die auf Kosten der Arbeiterschaft obszöne Summen verdienen. Deshalb gehen auch immer mehr Staatsbetriebe vor die Hunde. Was ist aus den Vorzügen unseres sozialistischen Systems geworden, frage ich Sie. Renten, freie medizinische Versorgung, alles beim Te u fel! Das würde der Große Vorsitzende nicht zulassen, wenn er noch am Leben wäre.«
Leidenschaftliche Äußerungen eines echten Prolet a rierherzens, auch wenn sie der heutigen Parteipolitik z u widerliefen. Yu konnte den Frust des alten Mannes i r gendwie verstehen. Über viele Jahre hatte die Arbeite r klasse politische Privilegien genossen oder war stolz auf ihren Status gewesen, denn ihr war, gemäß Maos The o rie, als revolutionärster Kraft im Klassenkampf des sozi a listischen China die Führungsrolle zugefallen. Doch mit t lerweile hatte der Wind gedreht.
»Unsere Gesellschaft befindet sich derzeit in einer Übergangsphase , und solche Phänomene sind unvermei d lich. Sie haben doch bestimmt alle diesbezüglichen Pa r teidokumente und Zeitungsartikel gelesen. Ich bra u che Ihnen das nicht zu erklären«, sagte Yu, bevor er auf den Punkt kam. »Sie wissen sicher, weshalb wir uns he u te hier treffen, Genosse Wan. Wie standen Sie zu Ihrer Nachbarin Yin?«
»Sie ist tot. Ich sollte nichts Schlechtes über sie sagen, aber wenn Sie glauben, daß meine Meinung für die E r mittlungen von Bedeutung ist, dann werde ich ganz offen mit Ihnen reden.«
»Bitte tun Sie das, Genosse Wan. Alles kann hilfreich sein für die Aufklärung dieses Falles.«
»Sie war Teil jener schwarzen politischen Kräfte, die die Geschichte zurückdrehen wollten, zurück in die üblen zwanziger und dreißiger Jahre, als China von Imperial i sten und Kapitalisten in den Schmutz getreten wurde, während diese bürgerlichen Intellektuellen freudig nach den Knochen schnappten, die ihre Herren ihnen hinwa r fen. In ihrem Buch – Sie haben es sicher gelesen – we r den die Angehörigen der Arbeiterklasse durchweg als Clowns oder Taugenichtse dargestellt. Dabei waren wir es, die die Drei Großen Berge gestürzt haben – den Imp e rialismus, den Feudalismus und den Kapitalismus; wir waren es, die das neue sozialistische China aufgebaut haben.«
Yu wurde allmählich klar, warum Wan mehr noch als andere Ruheständler erbittert war. Er hatte an Schulen und Universitäten politische Vorträge gehalten und lebte ganz in der politischen Terminologie der siebziger Jahre. Doch jetzt, in den Neunzigern, waren solche Begriffe und Ansichten obsolet geworden.
»Auch sie hat doch während der Kulturrevolution g e litten«, warf Yu ein.
»Jeder andere hat das Recht, sich über die Kulturrev o lution zu beklagen, aber nicht Yin Lige. Wer war sie denn? Eine einschlägig bekannte Rotgardistin. Weshalb wurden denn die Arbeiter-Propagandatrupps in die Sch u len und Unis geschickt? Um das schreckliche Chaos au f zuräumen, das ihresgleichen dort hinterlassen hatte.«
»Nun ja, das ist vorbei«, sagte Yu. »Lassen Sie mich etwas anderes fragen, Genosse Wan. Haben Sie in letzter Zeit eine Veränderung an ihr wahrgenommen?«
»Nein, ich habe ihr keinerlei
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