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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Beachtung geschenkt.«
    »Ist etwas Ungewöhnliches im Haus vorgefallen?«
    »Nicht, daß ich wüßte. Aber ich bin bloß ein alter Rentner. Es ist Aufgabe des Nachbarschaftskomitees, hier aufzupassen.«
    »Sie waren nicht zu Hause an dem Morgen, als Yin ermordet wurde?«
    »Nein. Ich war am Bund und habe Tai-Chi geübt«, erwiderte Wan. »Der Staatsbetrieb, für den ich gearbeitet habe, kann nicht länger für unsere medizinische Verso r gung aufkommen. Wir haben also keine andere Wahl, als uns selber fit zu halten.«
    »Verstehe. Üben Sie in einer größeren Gruppe?«
    »Oh ja. Wir sind ziemlich viele; manche üben auch mit Schwertern oder Säbeln.«
    »Kennen Sie Namen und Adressen der anderen? Das ist reine Formsache. Vielleicht muß ich einen von ihnen bitten, Ihre Anwesenheit zu bestätigen.«
    »Sie wissen ja, wie das ist, Genosse Hauptwachtme i ster«, sagte Wan. »Die Leute absolvieren dort am Bund jeden Morgen ihre zwanzig bis dreißig Minuten Tai-Chi, dann gehen sie ihrer Wege. Da fragt man keinen nach Namen und Adresse. Einige nicken mir zu, ohne zu wi s sen, wie ich heiße, und umgekehrt ebenso. Mehr ist da nicht.«
    Was Wan sagte, leuchtete ein, dennoch glaubte Yu, ein leichtes Zögern in den Worten des alten Mannes wahrzunehmen. »Wenn Sie vielleicht einige von ihnen morgen wieder treffen … ein, zwei Namen würden g e nügen.«
    »Ich werde sehen, was sich machen läßt. Aber für he u te habe ich anderes zu tun, Genosse Hauptwachtmeister Yu, falls Sie keine weiteren Fragen haben.«
    »Wir können uns ja später noch einmal unterhalten.«
    Yu zündete sich eine Zigarette an, hakte Wans Namen auf seiner Liste ab und wandte sich dem nächsten zu. Nachdem er die Informationen über Herrn Ren durchg e lesen hatte, wollte er ihn schon abhaken, besann sich dann aber eines Besseren. Herr Ren war seinem Klasse n status nach »Kapitalist«. Vor 1949 hatte das shikumen— Gebäude seinem Vater gehört, der als Konterrevolutionär in den frühen fünfziger Jahren hingerichtet worden war. Das Haus war verstaatlicht worden. Die Familie Ren ha t te sich daraufhin in einem kleinen abgeteilten Raum im Südflügel zusammendrängen müssen. Die folgenden Ja h re mit ihren wechselnden politischen Kampagnen hatten für sie eine Zeit des Unglücks und der Verleumdung b e deutet. Während der Kulturrevolution hatten die Roten Garden Herrn Ren mit einer schweren Tafel um den Hals durch die Gassen getrieben, auf der stand: »Nieder mit dem schwarzen Kapitalisten Ren«. Doch wie es im tao i stischen Klassiker Dao De Jing heißt: Wenn das Schic k sal seinen Tiefpunkt erreicht hat, wandelt es sich. Nac h dem die gesamte Gesellschaft von Reformen erfaßt wo r den war, wurden auch die Karten der shikumen -Bewohner neu gemischt. Herrn Rens Sohn konnte zum Studium in die Vereinigten Staaten gehen und gründete dort eine High-Tech-Firma. Bei seinem letzten Besuch in der Schatzgartengasse hatte er sich erboten, seinem Vater ein Apartment in einem der besten Viertel zu kaufen, doch sein Vater hatte abgelehnt.
    Dem Alten Liang kam es verdächtig vor, daß Herr Ren in dem alten Haus bleiben wollte. Vielleicht hegte er e i nen heimlichen Haß wegen all der Erniedrigungen, die er in jenen Jahren hatte erdulden müssen. Schließlich sagt schon ein Sprichwort: Ein Mann kann auf Vergeltung sinnen, auch wenn er zehn Jahre auf die passende Gel e genheit warten muß. Womöglich wollte Herr Ren die Partei aufgrund seines lange unterdrückten Zorns in Schwierigkeiten bringen.
    Falls das seine Absicht war, so wäre Yin eine gutg e wählte Zielscheibe. Der Mord an einer Dissidentin brac h te die Regierung in eine peinliche Lage. Wurde der Fall nicht aufgeklärt, so warf dies ein schlechtes Licht auf die Partei. Und außerdem war Yin eine ehemalige Rotgard i stin. Ihr Tod könnte als symbolische Rache für all das ge l ten, was er hatte erdulden müssen.
    Wie Wan hatte auch Herr Ren nur ein unbestätigtes Alibi. Er war an jenem Morgen in ein Nudelrestaurant namens Alter Halbplatz gegangen. Dort hatte er, wie er angab, in Anwesenheit mehrerer Gäste sein Frühstück eingenommen, konnte aber weder eine Quittung mit dem entsprechenden Datum vorlegen, noch den Namen eines anderen Gastes angeben.
    Die Theorie des Alten Liang war höchst kompliziert und klang, als sei sie von der revolutionären Pekingoper Der Hafen i nspiriert. In dieser in den frühen siebziger Jahren entstandenen Oper führte ein Kapitalist aus Haß gegen die sozialistische

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