Schwarz auf Rot
Sofort kam sie mit der Kanne, um ihm nachz u schenken.
»Heute habe ich eine andere Aufgabe für Sie«, sagte er und reichte ihr die Liste, die er am vorigen Abend z u sammengestellt hatte. »Bitte gehen Sie in die Stadtbibli o thek, und entleihen Sie diese Bücher für mich.«
Es war nicht allein ein Vorwand, um sie wegzuschi c ken. Die Bücher würden ihm helfen, sich den Glanz des alten Shanghai besser vorstellen zu können. Auch mußte er sich eingehender über die Stadtgeschichte informieren.
»In ein paar Stunden bin ich zurück«, sagte sie. »Rechtzeitig, um Ihnen Ihr Mittagessen zu kochen.«
»Ich fürchte, Sie verwöhnen mich zu sehr. Mich eri n nert das an eine Zeile des Dichters Daifu«, sagte er und flüchtete sich in Ironie, da er nicht wußte, wie er reagi e ren sonst sollte. »Es gehört zum Schwersten, Gefälligke i ten von einer Schönheit anzunehmen.«
»Ach, Oberinspektor Chen, Sie sind genauso roma n tisch wie Daifu.«
»War nur ein Scherz«, sagte er. »Für mich genügt auch eine Packung Instantnudeln.«
»Nein, auf keinen Fall«, entgegnete sie entschieden, während sie in ihre Straßenschuhe schlüpfte. »Das würde Herr Gu nicht dulden. Er würde mich auf der Stelle en t lassen.«
Knapp über ihrem schlanken Knöchel entdeckte er e i nen bunttätowierten Schmetterling. Er erinnerte sich nicht, ihn im Dynasty Club gesehen zu haben. Dann ve r suchte er, sich wieder auf seine Übersetzungsarbeit zu konzentrieren, doch Lis Anruf hatte seine Gedanken in eine andere Richtung gelenkt. Er stimmte dem Parteis e kretär zwar nicht zu, aber es ging ihm n icht aus dem Kopf, daß Hauptwachtmeister Yu ganz allein mit dem Mordfall an einer regimekritischen Schriftstellerin ko n frontiert war. In Chens Augen war einigen chinesischen Schrif t stellern das Etikett »Dissident« ohne plausible Gründe angehängt worden.
Zum Beispiel war Ende der siebziger Jahre eine Gru p pe junger Dichter hervorgetreten, die man die »Obsk u ren« nannte. Sie schrieben nicht eigentlich über Politik; was sie von anderen unterschied, waren vielmehr ihre »obskuren« Metaphern. Da ihre Gedichte in offiziellen Zeitschriften kaum unterzubringen waren, hatten sie ihre eigene Untergrundzeitschrift gegründet. Das erregte die Aufmerksamkeit westlicher Sinologen, die ihre Arbeiten in den höchsten Tönen lobten und sich dabei vor allem auf Stellen konzentrierten, die man politisch interpreti e ren konnte. Auf diese Weise wurden die »Obskuren« bald weltbekannt, was für die chinesische Regierung ein Schlag ins Gesicht war. Auf diese Weise hatten die »O b skuren« das Etikett »Dissidenten« erhalten.
Vielleicht wäre aus ihm ein regimekritischer Dichter geworden, wenn er nach seinem Abschluß an der Peki n ger Fremdsprachenhochschule nicht eine Stelle bei der Polizei in Shanghai zugewiesen bekommen hätte. Zu di e ser Zeit hatte er bereits mehrere Gedichte veröffentlicht, und einige Kritiker hatten seinen Stil als modernistisch bezeichnet. Polizeiarbeit war nie seine Traumkarriere gewesen. Seine Mutter hatte es Schicksal genannt, o b gleich es im Buddhismus, dessen gläubige Anhängerin sie war, keine spezielle Gottheit für das Schicksal der Menschen gab.
Es war eher wie in dem surrealen Gedicht, das er ei n mal gelesen hatte, in dem ein Junge einen beliebigen Stein aufhebt und ihn absichtslos in ein Tal voll rotem Staub wirft. Dort verwandelte sich der Stein in … Obe r inspektor Chen?
Gegen eins erhielt er einen Anruf von Hauptwach t meister Yu.
»Was gibt es Neues?«
»Wir haben ihr Schließfach gefunden. Dort lagen zweitausend Yuan und etwa derselbe Betrag in US-Dollar.«
»Dafür braucht man doch eigentlich kein Schlie ß fach.«
»Es war noch ein Manuskript drin«, sagte Yu. »Z u mindest sieht es wie ein Manuskript aus.«
»Wie meinen Sie das? Ein weiteres Buch?«
»Vielleicht. Es ist auf englisch.«
»Die Übersetzung ihres Romans?« fragte Chen, und nach einer Pause: »Aber wozu sollte sie die in ein Schließfach legen, wo sie doch bereits erschienen ist?«
»Ich kann nicht genau sagen, worum es sich handelt. Sie wissen ja, wie schlecht mein Englisch ist. Aber für mich sieht es eher nach Gedichten aus.«
»Das ist interessant. Hat sie Texte aus dem Chines i schen ins Englische übersetzt?«
»Ich kann es wirklich nicht sagen. Möchten Sie sich den Text nicht einmal ansehen?« fragte Yu. »Das einz i ge, was ich verstehe, sind Namen, wie Li Bai oder Du Fu. Aber ich denke, die beiden haben nichts
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