Schwarz auf Rot
wäre also besser, sich in der entsprechenden Fachliteratur umzus e hen; dort würde er zwar keine äquivalenten Begriffe fi n den, wohl aber eine ungefähre Vorstellung erhalten, die er dann in seine Übersetzung einbringen konnte.
Er übersprang den Abschnitt über Marketing fürs erste und nahm sich die Passage über die Gastronomie im New World Center vor. Dieses Thema erwies sich als ang e nehmer und zog ihn sofort in seinen Bann.
Etwa gegen ein Uhr kam Weiße Wolke. Sie wirkte müde und abgespannt und hatte dunkle Ringe unter den mandelförmigen Auge n. Vielleicht hatte sie gestern a bend lange über ihren Büchern gesessen, nachdem ihr Tag mit den Pflichten als kleine Sekretärin ausgefüllt war.
Sie zog die Jacke aus und hängte sie über die Stuh l lehne. Sofort registrierte sie die Veränderung der Rau m temperatur und wandte sich ihm mit einem strahlenden Lächeln zu.
»Vielen Dank für die Anregung bei Herrn Gu«, sagte er.
»Sie hätten so etwas schon längst haben sollen. Seien Sie doch nicht so streng mit sich«, erwiderte sie. »Und hier ist die Kassette der Interviews mit Yins Univers i tätskollegen.«
»Sie sind eine großartige Sekretärin, Weiße Wolke.«
›»Klein‹ ist hier wohl das passendere Adjektiv«, k i cherte sie.
Am liebsten hätte er sich die Interviews gleich ang e hört, aber ihre Gegenwart lenkte ihn zu sehr von den E r mittlungen ab.
»Kann ich mal duschen?« fragte sie unvermittelt.
»Natürlich. Aber der Installateur ist gerade erst fertig geworden. Ich habe noch nicht saubergemacht.«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte sie.
Sie streifte die Schuhe ab und ging mit ihrer Tasche Richtung Badezimmer; auf der Schwelle lächelte sie ihm noch einmal zu, bevor sie die Tür hinter sich schloß. Er fragte sich, ob dies eine kalkulierte Geste war, die ihn zu Intimitäten auffordern sollte. Während er auf das Ra u schen das Wassers lauschte, versuchte er, nicht zu viel in ihre Rolle als kleine Sekretärin hineinzuinterpretieren.
Statt dessen spielte er sich das Tonband vor. Es ha n delte sich nicht um Befragungen im strengen Sinn, so n dern eher um eine Sammlung von Beobachtungen, die die einzelnen Personen gemacht hatten. Das war ja auch kein Wunder, denn Weiße Wolke besaß weder die Aut o rität noch die Ausbildung e ines Ermittlungsbeamten. Es war ohnehin erstaunlich, wie sie die Leute zum Reden gebracht hatte.
Das erste Gespräch hatte sie mit einem älteren Profe s sor jener Universität geführt, an der auch Yin unterrichtet hatte. »Sie war eine Opportunistin. Wie ich zu diesem Urteil komme? Zunächst sah sie die Chance, Rotgardistin zu werden, und wir alle wurden zum Gegenstand ihrer hemmungslosen revolutionären Kritik. Nachdem sie als Rebellin in Ungnade gefallen war, sah sie ihre Chance in Yang. Er war ein brillanter Kopf, eine ungenutzte Gol d mine. Hier bot sich ihr Gelegenheit, Aktien zu Tiefstpre i sen zu erwerben. Früher oder später würde die Kulturr e volution zu Ende sein, das muß sie vorausgesehen haben. Bloß daß sie das romantische Drama etwas zu weit g e trieben hat – auf seine Kosten. Aber dennoch hat sie kaum Verlust gemacht, finden Sie nicht auch? Das Buch, der Ruhm, das Geld und noch einiges mehr!«
Der nächste war der pensionierte Universitätslektor Zhuang, der jahrelang Yangs Kollege gewesen war und auch Yin ein paarmal getroffen hatte: »Er lebte zu sehr in seiner Bücherwelt. Selbst in jenen Jahren bewahrte er sich seinen Idealismus. Ständig las und schrieb er, ganz wie Doktor Schiwago. Sie dagegen war bereits eine typ i sche alte Jungfer mit ein paar dunklen Flecken in der Personalakte. Er war ihre letzte Chance, und natürlich hat sie zugegriffen.«
Der dritte war ein Wissenschaftler mittleren Alters namens Pang, der zwar Yins Roman gelesen, aber kaum persönlichen Kontakt mit ihr gehabt hatte: »Schriftstell e risch war sie nicht sonderlich begabt. Das Buch hat vor allem wegen seines autobiographischen Charakters Au f sehen erregt. Das wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, solange es nur von ihr gehandelt hätte. Aber ohne ihn war sie ein Niemand. Die eigentliche Faszination ging von ihm aus …«
Weiße Wolke stellte keine Fragen während der Inte r views. Da sie keine Polizistin war, schien es klug, auch nicht als solche aufzutreten. Nur bei dem Gespräch mit Pang hatte sie einmal n achgefragt: »Sie glauben also nicht, daß sie sich damals in ihn verliebt hat? Hat sie denn durch diese Affäre nicht ebenfalls
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