Schwarz auf Rot
Interessantes dabei«, sagte sie. »Keine der Joint-Venture-Firmen will jemanden einste l len, der bloß klassische chinesische Gedichte hers a gen kann.«
»Die Blüte fällt, das Wasser rinnt, der Frühling flieht / Die Welt hat sich verändert.«
»Warum gerade diese Zeilen von Li Yu?« fragte sie.
»Ich mußte gerade an meinen Studienabschluß de n ken, als man mir eine Stelle bei der Polizei zugewiesen hat. Damals habe ich mich für nichts anderes interessiert als für Dichtung.«
»Aber heute habe n Sie einen großartigen Posten, O - berinspektor Chen«, sagte sie und zupfte ostentativ am Gürtel des Bademantels. »Ich werde mich jetzt umzi e hen. Das Buch bringe ich heute noch vorbei, falls ich es bekomme. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Als sie weg war, konnte er sich wieder auf den Mor d fall konzentrieren. Er beschloß, eine Abkürzung zu ne h men und seine Beziehungen geltend zu machen. Die Staatssicherheit war nicht gerade freizügig gewesen bei der Weitergabe wichtiger Informationen; er mußte also eigene Wege gehen. Ein Freund v on ihm, Huang Shan, war Direktor des Büros für auswärtige Kontakte beim Shanghaier Schriftstellerverband. Chen war einst selbst für diesen Posten vorgesehen gewesen, hatte dann aber seinen Freund Huang empfohlen. Da Yin Lige als Mi t glied des Verbandes nach Hongkong gereist war, mußte es dort eine Akte über sie geben, und Huang hatte zwe i fellos Zugang zu diesem Dossier. Chen wählte Huangs Nummer, und dieser sagte sofort seine Hilfe zu.
Wie Chen erwartet hatte, trafen die gewünschten I n formationen bereits am Nachmittag per Kurier bei ihm ein.
Chen konnte daraus ersehen, daß Yin erst kürzlich e i nen Antrag auf Erneuerung ihres Reisepasses gestellt hatte. Der Dienstweg erforderte, daß der Antrag zunächst von der Arbeitseinheit des Antragstellers befürwortet wurde. Yin hatte sich zu diesem Zweck an den Schrif t stellerverband und nicht an ihre Universität gewandt. Der Anlaß war das Schreiben einer kleinen amerikanischen Universität, die sie für den kommenden Sommer zu e i nem Gastaufenthalt einlud.
Früher wären derartige Anträge von regimekritischen Schriftstellern von vornherein abgelehnt worden. Doch die Parteiführung mußte zu der Erkenntnis gelangt sein, daß ihr Versuch, die Dissidenten im Land zu halten, di e se im Ausland nur um so interessanter machte. Waren sie erst einmal außer Landes, so schwand die Aufmerksa m keit rasch, und sie wurden nicht länger bestaunt wie das siebte Weltwunder. Vermutlich hatten die zuständigen Stellen angenommen, Yin würde von ihrer Reise nach Hongkong nicht zurückkehren. Sie mußten gehofft h a ben, sie auf diese Weise loszuwerden. Doch sie war nach Shanghai zurückgekommen. Es gab also keine Veranla s sung, ihren erneuten Paßantrag abzuweisen.
Auch ließ sich, laut Huang, nichts Verdächtiges an i h rem Vorhaben finden. Sie war eingeladen worden, als Gastwissenschaftlerin ein Semester an dieser Universität zu verbringen, und hatte zu diesem Zweck ein Stipend i um erhalten, wenngleich die Summe eher von symbol i scher Bedeutung war.
Daher hatte eine literarische Agentur in New York e i ne eidesstattliche Erklärung für ihren Unterhalt abgeg e ben. Mit oder ohne Bürgschaft, Yin hätte als Dissidentin mit Sicherheit keine Probleme gehabt, vom amerikan i schen Konsulat in Shanghai ein Visum zu erhalten.
Dennoch war Chen über diese Information erstaunt, denn Yu hätte auf jeden Fall über diesen Antrag info r miert werden müssen, egal welche politischen Bedenken die Staatssicherheit oder andere höhere Stellen hatten. Zum ersten Mal erwog Chen die Möglichkeit, daß der Mord an Yin politisch motiviert sein konnte. Warum sonst gaben sich diese Stellen so zugeknöpft, selbst noch nach ihrem Tod? Doch wenn die Regierung sie wirklich daran hindern wollte, das Land zu verlassen, warum hatte man dann nicht schon ihre Reise nach Hongkong vere i telt? »Kurz vor der Ausreise in die Vereinigten Staaten ermordet«, eine solche Überschrift würde international Aufsehen erregen und dem Bild des neuen China schw e ren Schaden zufügen, das die Regierung der Welt zu pr ä sentieren suchte.
Dann fiel ihm noch etwas anderes in der Akte auf. Yin hatte vor kurzem ihre Geburtsurkunde und ihr Diplom übersetzen und durch den Schriftstellerverband beglaub i gen lassen. Das konnte nur bedeuten, daß sie an Au s wanderung dachte. Wie so viele andere mochte sie g e plant haben, in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Und
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