Schwarz auf Rot
viel riskiert?«
»Ich sage ja nicht, daß sie nichts für ihn empfunden hat; das tat sie auf ihre Weise sicher«, entgegnete Pang. »Aber ich vermute, daß sie noch andere Beweggründe hatte.«
Da mochte, ja, da mußte etwas dran sein, dachte Chen.
Doch Vermutungen anzustellen war für Außenstehe n de einfach, schwieriger war es, klare Linien zu ziehen.
Er war so in seine Gedanken vertieft, daß er erschrak, als der Türknauf des Badezimmers leise gedreht wurde. Er schaltete den Computer aus. Wie lange sie in seinem Bad gewesen war, konnte er nicht sagen. Es gab dort nicht einmal eine richtige Wanne, nur einen abgeteilten zementierten Bereich mit einem Duschkopf an der De c ke. Dennoch schien sie sich Zeit gelassen zu haben, und das war nicht weiter verwunderlich. Eine heiße Dusche war für die meisten Bewohner Shanghais noch immer Luxus. Als er aufblickte, sah er sie barfuß zu seinem Schreibtisch herüberkommen. Sie trug seinen grauen Frotteebademantel, den sie vermutlich irgendwo in der Wohnung entdeckt hatte. Der Bademantel teilte sich, als sie sich über seine Schulter beugte, und er erhaschte e i nen Blick auf ihre Brüste. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet, in ihrem Haar hingen glitzernde Wassertropfen. Ihm fielen dazu Zeilen des bekannten Tang-Dichters Li Bai ein. Sie stammten aus einem Gedicht, das Yang in seine Sammlung aufgenommen hatte:
Die Wolken eifern, d ein Tanzkleid zu sein, und die Pä o nie w ill deine Schönheit einschüchtern. Der Frühling s wind l iebkost das Geländer, Blütenblätter glitzern u n term Tau …
Ihm fiel ein, daß er, als er weiße Wolke zum ersten Mal traf und sie in einem Separee des Karaoke-Clubs mitei n ander getanzt hatten, auch diese Zeilen zitiert hatte. D a mals hatte sie n ur ein dudou getragen, dieses trad i tionelle chinesische Leibchen, das als Kleidungsstück jetzt wi e der so populär war, und seine Hand hatte ihren nackten Rücken berührt. Das war eine Szene, an die er sie jetzt nicht erinnern wollte, und so behielt er die Zeilen für sich.
Li Bai war während der Tang-Dynastie so etwas wie ein Hofpoet gewesen und schließlich wegen ebenjenes Gedichts in Ungnade gefallen. Laut späteren Kritikern hatte es das Mißfallen der kaiserlichen Konkubine erregt, daß ein Dichter sie im Auftrag des Kaisers rühmte. And e rerseits hatten jene Kritiker das Werk des Dichters g e lobt. Die Lektion daraus schien zu lauten, daß man sich als Dichter besser nicht mit Politik einlassen sollte.
»Woran denken Sie?« fragte sie, hinter ihm stehend, während sie sich das Haar mit einem Handtuch trocke n rieb.
»Für die Menschen ist es nicht leicht, die Geschehni s se der Kulturrevolution zu vergessen«, sagte er. Dabei fiel sein Blick auf ihre schlanken Fesseln. Keine Tät o wierung, dafür aber rote Zehennägel, die glänzten wie frische Blütenblätter. Hatte er sich das mit der Tätowi e rung neulich bloß eingebildet? »Und es fällt ihnen schwer, nicht nur aus ihrem eigenen Blickwinkel heraus zu urteilen.«
»Was meinen Sie damit, Oberinspektor Chen?«
»Die Leute können den Eindruck, den sie damals von den Rotgardisten gewonnen haben, nicht einfach wegw i schen.«
»Ja, es hat mich auch gewundert, daß alle so gegen Yin eingenommen waren, sogar jene, die kaum persö n lich mit ihr in Kontakt gekommen waren.«
»Es gibt ein altes Sprichwort: Wenn drei Leute davon berichten, sie hätten einen Tiger auf der Straße gesehen, so glaubt es die ganze Stadt.«
Dann fügte er unvermittelt hinzu: »Einer der Befra g ten, dieser Herr Zhuang, erwähnte die Figur Doktor Schiwago. Haben Sie seine Telefonnummer?«
»Ja. Ist das wichtig?«
»Das weiß ich noch nicht, aber ich möchte dem nac h gehen.«
»Hier ist sie«, sagte sie und reichte ihm ein Stück P a pier.
»Heute hätte ich eine andere Aufgabe für Sie, Weiße Wolke. Aber Sie sehen ein wenig müde aus.«
»Bin spät ins Bett gekommen, aber das macht nichts. Die heiße Dusche hat geholfen.«
Er erklärte ihr sein Problem mit dem Textabschnitt über Marketing.
»Zufällig habe ich neulich Einführung in das Mark e ting gelesen. Ein wirklich gutes Buch, knapp und doch verständlich. Ich fürchte, daß ich es einem Kommilitonen geliehen habe, aber ich kann es jederzeit aus der Bibli o thek beschaffen.«
»Ihr Hauptfach ist doch Chinesisch, nicht wahr?«
»Die Arbeitsplätze für Studienabgänger werden nach wie vor von staatlichen Stellen verteilt. Für Chinesisch-Hauptfächler ist nie etwas
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