Schwarz auf Rot
die geschlossene Türe passieren und sich wundern, warum Yin nicht auftauchte.
Laut Yus Hypothese konnte der Mörder sich entweder im tingzijian oder anderswo im Haus versteckt gehalten haben, bis der geeignete Moment zur Flucht gekommen war.
Chen hielt es durchaus für möglich, daß sich jemand für kurze Zeit zwischen dem Gerümpel, das in allen E c ken des Hauses herumlag, verborgen gehalten hatte; er hätte auch hinter der geöffneten rückwärtigen Tür warten oder sich hinter den Vorhang unter der Treppe stellen können.
Er wäre dann aus seinem Versteck im shikumen ve r schwunden, als die Krabbenfrau ihren Posten verließ, und alle Bewohner die Treppe hinauf in Yins Zimmer gerannt waren.
Doch das Verstecken und Abwarten barg neue Ris i ken. Hätte jemand ihn entdeckt, so hätte er sofort als Verdächtiger gegolten und wäre festgehalten oder z u mindest befragt worden.
Warum hätte ein Mörder ein solches Risiko auf sich nehmen sollen? Und welchen Grund hatte er, Yin zu t ö ten? Wozu das Ganze?
Das waren die Fragen, auf die er keine Antwort wußte.
Nachmittags machte sich Chen wieder an seine Überse t zungsarbeit . Er hatte Weißer Wolke gesagt, er werde den ganzen Tag in der Stadtbibliothek verbringen. Ob sie ihm nun glaubte oder nicht, sie rief jedenfalls nicht an und erschien auch nicht in der Wohnung.
Er sagte sich, daß er für die Ermittlungen alles No t wendige getan habe. Polizisten arbeiteten oft Tage oder Wochen an einem Fall, ohne Ergebnisse zu erzielen. Und er konnte, trotz a ller guten Absichten, momentan einfach nicht mehr Zeit auf diese Sache verwenden.
Gegen Abend erhielt er einen Anruf von Überseech i nese Lu. Wie immer begann dieser das Gespräch mit der Erwähnung der Summe, die Chen ihm als Startkapital für sein Restaurant, das Moscow Suburb, geliehen hatte. Dann wiederholte er seine ständige Einladung zum A bendessen.
»Inzwischen habe ich einige russische Bedienungen, die in engen weißen Spitzenkorsagen und Strumpfhaltern arbeiten; sie sehen aus, als wären sie alten Shanghai-Plakaten entstiegen. Absolut sensationell. Die Gäste re n nen mir die Türen ein, vor allem junge Leute. Sie sagen, die Atmosphäre sei echt xiaozi.«
»Xiaozi wie in kleinbürgerlich?«
»Genau. Der Begriff kommt wieder in Mode, aber mit positivem Beigeschmack. Xiaozi steht für den hippen, kultivierten, statusbewußten Kunden. Vor allem die A n gestellten der ausländischen Joint-ventures fahren darauf ab. Wer nicht xiaozi ist, kann nicht mitreden.«
»Tja, die Sprache wandelt sich«, sagte Chen, »und gleichzeitig verändert sie uns, ihre Sprecher.«
»Ach übrigens«, bemerkte Lu gegen Ende des G e sprächs. »Ich habe gestern mit deiner Mutter telefoniert. Sie hatte Probleme mit dem Magen. Nichts Ernstes, ve r mute ich, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Danke. Ich werde sie anrufen. Ich habe vor zwei T a gen mit ihr gesprochen; mir gegenüber hat sie nichts de r gleichen erwähnt.«
»Oh, mit mir redet sie über vielerlei Dinge; über den Ginseng von dir, über deine Arbeit und über dich.«
»Das weiß ich, alter Junge. Und vielen Dank auch.«
Als er den Hörer auflegte, dachte Chen, daß er Weiße Wolke mit Sicherheit nicht ins Moscow Suburb ausfü h ren würde, wenn er sie demnächst einmal zum Essen ei n laden würde; selbst wenn Lu, wie es seine Gewohnheit war, jede Bezahlung zurückwies.
Sein Freund und seine Mutter teilten eine übertriebene Besorgnis für das, was sie »die dringlichste Angelege n heit« in seinem Privatleben nannten und was Konfuzius als die vornehmste Pflicht eines pietätvollen Sohnes a n sah: Die schlimmste Pietätlosigkeit eines Sohnes besteht darin, keine Nachkommen in die Welt zu setzen. Es schien, als habe sich Überseechinese Lu in dieser spezie l len Frage zum getreuen und eifrigen Berater seiner Mu t ter gemacht. Jedes Mädchen, das in Chens Begleitung gesehen wurde, setzte sofort entsprechende Hoffnungen in Gang, egal, wie unwahrscheinlich eine Verbindung zwischen den beiden auch sein mochte.
Einen Moment lang hatte Chen fast so etwas wie Neid für seinen Freund verspürt. Lu, ein erfolgreicher G e schäftsmann und guter Familienvater, verstand es, immer am Puls der Zeit zu sein, und blieb dabei doch konserv a tiv und traditionell in seiner Fürsorge für den Freund.
Vielleicht hatte Lu sich den Erfordernissen der neuen Zeit besser angepaßt, indem er das Alte in den persönl i chen Beziehung zu wahren wußte, das Neue im G e
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