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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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hatte, aber das hätte vielleicht pedantisch geklungen. In den Jahren des Klassenkampfs hatte Liang jeden Raum in seinem Quartier nach Belieben durchs u chen können, ohne sich um solche Formalitäten zu sch e ren. »Lassen Sie die Fahrkarte mal sehen.«
    »Sie besagt eindeutig, daß er vorhatte, sich nach Shenzhen abzusetzen«, sagte Alter Liang, während er die Karte herüberreichte. »Ich habe in den Unterlagen des Nachbarschaftskomitees nachgesehen. Wan hat weder Freunde noch Verwandte dort. Er ist Pensionist und hat also auch nicht geschäftlich in Shenzhen zu tun. Ist doch ganz klar, daß er über die Grenze nach Hongkong wollte. Das haben schon viele vor ihm gemacht. Ihm war klar, daß es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis wir ihm auf die Schliche kommen würden.«
    Das klang zwar einleuchtend, aber die Fahrkarte war für den Schlafwagen der »weichen« Klasse. Dieses D e tail schien dem Alten Liang entgangen zu sein, dachte Yu, während er das Stück Papier in seiner Hand eing e hend prüfte. Warum hätte Wan den Aufpreis für die »weiche« Klasse bezahlen sollen, wenn er tatsächlich plante, was der Alte vermutete?
    »Und was hat Wan zu der Fahrkarte gesagt?«
    »In etwa das, was ich Ihnen gerade erzählt habe.«
    »Kann ich das Ticket behalten?«
    »Natürlich.« Alter Liang musterte ihn erstaunt. »Bei genauem Nachdenken ist da noch etwas, das ihn verdäc h tig macht. Als Nachbarschaftspolizist hätte ich es eigen t lich früher bemerken müssen. Etwa vor einem halben Jahr begann Wan plötzlich, in aller Frühe das Haus zu verlassen, angeblich, um am Bund Tai-Chi zu üben. Auch Yin hat das jeden Morgen getan, aber da gab es einen entsche i denden Unterschied. Sie übte nicht nur im Park, sondern auch hier in der Gasse, vor allem an R e gentagen. Ich habe Wan nie hier üben sehen, wie ein ec h ter Tai-Chi-Anhänger das täte. Ich glaube, er hat nicht die Wahrheit gesagt.«
    »Na schön, vielleicht hat er nicht so konsequent geübt. Mir hat er erzählt, er habe nur damit angefangen, weil der Staatsbetrieb, für den er all die Jahre gearbeitet hat, die Krankenversicherung für die Pensionisten nicht mehr bezahlen kann.«
    »Er ist ein unverbesserlicher Aktivist aus den Zeiten der Propagandatrupps, und hatte an allem etwas ausz u setzen. Deshalb hat er Yin ja auch umgebracht. Tai-Chi hin oder her, das war doch bloß eine Ausrede. Er hat ihr nachspioniert, um ihre Gewohnheiten in Erfahrung zu bringen. Und dann hat er zugeschlagen.«
    »Hätte er ihr über Monate folgen müssen, um sie an jenem Morgen in ihrem Zimmer zu töten?«
    »Was ist daran unwahrscheinlich?« Allmählich gingen dem Alten Liang die Fragen dieses Ermittlers auf die Nerven.
    »Lassen Sie mich schnell bei Doktor Xia anrufen, A l ter Liang, damit wir das mit den Fingerabdrücken klären können.«
    »Wie Sie wollen, Genosse Hauptwachtmeister Yu.«
    Endlich allein im Büro, gestand Hauptwachtmeister Yu sich ein, daß Wans Geschichte wirklich nicht so u n wahrscheinlich war.
    Wans gesamtes Leben – oder zumindest große Teile davon – waren von einer völlig anderen Gesellschaft s struktur geprägt. In den sechziger und siebziger Jahren hatte man die Arbeiter in den Himmel gehoben, sie ga l ten als die Herren der Gesellschaft, die Baumeister der Geschichte. Leute wie Wan hatten sich vorbehaltlos der Revolution Maos verschrieben und geglaubt, einen Be i trag zum großartigsten Sozialsystem der Menschheitsg e schichte zu leisten, was seinerseits viel versprach, nicht z uletzt Versorgung im Ruhestand: großzügige Rente, volle Krankenversorgung und die Ehre, sich als Männer der ersten Stunde im warmen Licht eines kommunist i schen China baden zu können. Jetzt jedoch fanden sich diese pensionierten Arbeiter auf einmal am untersten E n de der Gesellschaft wieder. Ihr Etikett als »maßgebliche Klasse« war bedeutungslos geworden. Sie kamen mehr schlecht als recht über die Runden, und am schlimmsten war, daß die Staatsbetriebe, die größtenteils in der Krise steckten, ihre einstigen Versprechen nicht mehr halten konnten.
    Wan, das früher so geach tete Mitglied der Mao-Zedong-Ge danken-Propagandatrupps, mußte das beso n ders hart treffen.
    Yu rief Doktor Xia an und bat ihn, eine erneute Unte r suchung der Fingerabdrücke vorzunehmen und sich diesmal auf Wans Abdrücke zu konzentrieren.
    Dann machte er einen weiteren Anruf, diesmal beim Shanghaier Bahnhof. Er erinnerte sich, daß es besondere Regeln für Schlafwagentickets gab, und die

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