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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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mit Einmerkern . Er blätterte einige von ihnen durch; jedes Lesezeichen markierte ein G e dicht von Yang, das später in die von Yin herausgegeb e ne Anthologie aufgenommen worden war. Ein traditi o nelles Tuschebild mit zwei Kanarienvögeln hing hoch oben an der im Lauf der Jahre vergilbten Wand. Hier gab es nichts mehr, das von Yins Persönlichkeit gezeugt hä t te.
    Chens Interesse an dem Zimmer war auch durch den Begriff tingzijian -Schriftsteller geweckt worden. In den Dreißigern hatte es verarmte Schriftsteller gegeben, die sich keine bessere Bleibe als solche Treppenkammern hatten leisten können. Jetzt, in den Neunzigern, schien sich das zu wiederholen. Die isolierte Lage zwischen zwei Stockwerken war geradezu symbolisch. Er fragte sich, wie man in einem solchen Raum leben, geschweige denn schreiben konnte und wie man ein solches Leben im schriftstellerischen Werk dann auch noch romantisch verklären konnte. Offenbar war in der Vergangenheit nicht alles glamourös gewesen, aber die Nostalgie ließ es so erscheinen. Die Konturen der Dinge werden in der Erinnerung auf wundersame Weise weicher. Diese Zeile eines russischen Dichters hatte er während seiner Schu l zeit einmal gelesen, aber sie hatten sich ihm damals nicht erschlossen, doch mit den Jahren war sein Verständnis dafür gewachsen.
    Chen begann in dem tingzijian auf und ab zu gehen, soweit dies auf so beengtem Raum möglich war. Er mu ß te sich konzentrieren.
    Es war sicher nicht einfach für Yin gewesen, hier zu schreiben, aber auch alle anderen Aktivitäten wurden vom ständigen Treppauf und Treppab ihrer Mitbewohner gestört. Dazu kamen die anderen Geräusche und Ger ü che, die stets durchs ganze Haus zogen. Derzeit wehte aus der Gemeinschaftsküche der penetrante Duft von im Wok gebratenem Gürtelfisch herauf. Unwillkürlich schnupperte er.
    Er trat ans Fenster und stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett, dessen Anstrich größtenteils abgeblättert war.
    Einen Vorteil immerhin bot so ein tingzijian für einen Schriftsteller: Dadurch, daß das Fenster tiefer als der e r ste Stock, aber höher als die Fenster im Parterre lag, war der Bewohner auf Augenhöhe mit dem Treiben in der Gasse; inmitten des Geschehens und doch auf distanzie r tem Beobachtungsposten.
    Trotz der kalten Witterung standen einige der Bewo h ner draußen, unterhielten sich und boten sich gegenseitig gebratene Schweinefleischstreifen oder Stückchen von gedämpftem Fisch an. Für Chen war nicht feststellbar, ob es sich um ein spätes Frühstück oder ein frühes Mittage s sen handelte. Fliegende Händler brachten die unte r schiedlichsten Waren an Tragestangen in die Gasse. Ein alter Mann, der eine Ente mit grünschillerndem Kopf unter dem Arm trug, kam vorbei. Er blieb stehen, ließ den Vogel an einer Pfütze in der Ecke trinken und setzte dann seinen leichtfüßigen Gang fort. Zweifellos schwe b te vor seinem geistigen Auge bereits das Bild der in S e samöl gebratenen Entenflügel. Mit zufriedenem G e sichtsausdruck schloß sich seine Hand fester um den Hals des hilflosen Tieres. War das womöglich Herr Ren, der sparsame Gourmet? Doch dann erinnerte sich Oberi n spektor Chen an Rens Aussage, daß er nur ganz selten selbst koche.
    Wieder folgte Chens Blick der Biegung der Gasse bis dorthin, wo die Krabbenfrau mittlerweile ihren Posten wieder eingenommen hatte. Sie saß auf ihrem Bambu s hocker, vor sich zu ihren Füßen eine große Schüssel mit glitzernden Krabbenpanzern. Vielleicht benötigte der Lebensmittelmarkt eine zusätzliche Lieferung.
    Als er wieder zum Hintereingang hinunterstieg, fiel ihm etwas ins Auge: der Platz unter der Treppe oder vielmehr das, was diesen Platz verdeckte.
    In einem shikumen -Haus ist jeder verfügbare Raum kostbar und wird genutzt. Da der Platz unter der Treppe von keiner der Parteien für sich beansprucht werden konnte, war er zu einem weiteren kommunalen Stauraum für alle umfunktioniert worden. Dort konnte man abste l len, was nicht mehr unmittelbar von Nutzen, aber zu schade zum Wegwerfen war – das kaputte Fahrrad der Lis, den breitbeinigen Rattanstuhl der Zhangs, die Ko h lenkiste der Huangs. Doch im Gegensatz zu den übrigen Stauräumen wurde der Platz unter der Treppe von einer Art Vorhang verhüllt, einem Stück schweren, sicher einst teuren Stoff, das jetzt ausgeblichen und vom Ruß der Kohleherde verschmutzt war.
    Der Vorhang bauschte sich geheimnisvoll. Als Chen einen Schritt darauf zu machte, sprangen zwei kleinen Jungen

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