Schwarz auf Rot
romantischen Turm vergleichen, aber Yin hatte sich dort auch vor der Welt verkrochen.
Chen war entschlossen, sein Bestes für die Ermittlu n gen zu tun. Er versuchte, sich in die Situation der Behö r den zu versetzen. Ihm war noch immer nicht klar, inwi e fern eine Ermordung Yins ihnen hätte nutzen können. Was die Staatssicherheit betraf, so überraschte es ihn nicht, daß sie sich für den plötzlichen Tod einer regim e kritischen Schriftstellerin interessierte. Vielleicht wollte die Behörde auf diese Weise ihre Autorität unter Beweis stellen. In den vergangenen Jahren hatte die Partei ihre Politik gegenüber den Dissidenten geändert. Ausländ i sche Investitionen hingen in hohem Maße davon ab, wie die Regierung den potentiellen Partnern ihr neues, posit i ves Image vermittelte. Jemanden wie Yin zu ermorden hätte überhaupt nichts gebracht. Schließlich war sie nicht im Kampf für Freiheit und Demokratie mit einer roten Fahne auf den Tiananmen-Platz gezogen.
Dann versuchte er sich vorzustellen, wie die Nachbarn Yin wahrgenommen hatten. Daß sie nicht reich war, mußte jedem klar gewesen sein. Sicher gab es einige, die in Geldnöten steckten, wie Cai zum Beispiel, doch selbst dann hätte es ergiebigere Opfer gegeben: Herrn Ren e t wa, der alleinstehend war und ebenfalls jeden Morgen ausging. Außerdem gab es in diesem Viertel wohl kaum jemanden, der große Summen Bargeld zu Hause aufb e wahrte.
Selbst ihr Scheckbuch zu stehlen und damit Geld von der Bank abzuheben wäre einfach zu riskant. Die Bankf i lialen in der Innenstadt öffneten nicht vor neun Uhr; um diese Zeit hätte Yin den Verlust vermutlich bereits b e merkt und die Polizei verständigt. Es sprach also vieles gegen einen geplanten Raub, der durch Yins unerwartete Rückkehr gestört worden wäre.
Vernünftige Gründe, einen ihrer Mitbewohner zu ve r dächtigen, gab es also nicht, egal ob Yin nun mit oder ohne Vorsatz getötet wurde.
Doch warum hätte jemand von außen sie töten wollen?
Chen ertappte sich dabei, wie er resigniert den Kopf schüttelte. Die Möglichkeiten schienen unendlich. Er konnte ein Motiv nach dem anderen durchspielen, aber alles blieb Theor ie; er hatte keine Fakten, um seine Ve r mutungen zu untermauern.
An der Ecke Shandong Lu kam er an der Buchhan d lung »Neues China« vorbei. Zu seiner Verwunderung war die Verkaufsfläche für Bücher reduziert worden, und man bot dort jetzt billiges Kunstgewerbe an. In einem anderen, durch ein eindrucksvolles Arrangement aus r o ten Papierlaternen gekennzeichneten Bereich wurden japanische Nudeln serviert. Er war schon einige Monate nicht mehr in dieser Buchhandlung gewesen, und sie ha t te sich in der Zwischenzeit beinahe bis zur Unkenntlic h keit verändert. Es war, als hätte man eine alte Bekannte getroffen, die sich einer Schönheitsoperation unterzogen hatte: erkennbar, aber dennoch völlig entstellt.
Er widerstand der Versuchung hineinzugehen; er wol l te seine Gedanken nicht von dem Fall ablenken lassen. Nur einen Blick auf die Zeitschriften und Zeitungen auf einem Ständer beim Eingang gestattete er sich: Shan g haier Woche, Kultur in Shanghai, Bilder vom Bund, W o chengazette. Die Titelblätter zierten große Farbphotos populärer Stars. Er las keine dieser Publikationen und erkannte nur eines der Gesichter; es gehörte einer Scha u spielerin aus Hongkong.
Die Stadt veränderte sich rasend schnell.
Wieder versuchte er, den Fall aus einer neuen Perspe k tive zu sehen. Gleichgültig aus welchem Motiv er geha n delt hatte, wie würde sich ein von außen kommender Mörder nach vollzogener Tat verhalten haben?
Er würde so schnell wie möglich flüchten.
Es bestand zwar das Risiko, dabei von einem Hausb e wohner bemerkt zu werden, aber auch in einem shik u men -Haus hatten die Bewohner Gäste, die über Nacht blieben oder schon in aller Frühe kamen. Die Anwese n heit eines Fremden wäre also nicht unbedingt verdächtig gewesen. Niemand wäre so weit gegangen, ihn am Ve r lassen des Hauses zu hindern. Selbst wenn Yins Leiche sofort entdeckt worden wäre, hätte ein Bewohner später allenfalls Angaben für eine Steckbrief-Skizze l iefern können, doch solche Skizzen allein brachten in der Regel wenig für die Aufklärung eines Mordes.
Wesentlich größer war das Risiko, weiter bei der Le i che auszuharren, wo der Mörder jeden Moment ein Klo p fen an der Tür befürchten mußte. Je länger er in dem tingzijian blieb, desto mehr Leute würden durch das Treppenhaus gehen,
Weitere Kostenlose Bücher