Schwarz auf Rot
schäftsleben aber dennoch nicht verschmähte.
Chen ließ seine Fingergelenke knacken und setzte sich wieder an den Schreibtisch, zurück an die Arbeit, die ihn als einziges nie enttäuschte. Seine Arbeit bot ihm nur zu oft Gelegenheit, sich vor den anderen Aspekten des L e bens zu verstecken.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Selbst wenn er dabei dem Motiv des Mörders nicht näherkam, so konnte er imme r hin darüber spekulieren, warum dieser, wie Haup t wachtmeister Yu vermutete, in seinem Versteck abg e wartet hatte. Und er fand auch gleich eine Erklärung. Er mußte Angst gehabt haben, nicht nur gesehen, sondern von Yins Nachbarn erkannt zu werden. Damit eröffnete sich eine Reihe neuer Möglichkeiten. Der Mörder mußte jemand sein, der früher in dem shikumen gewohnt hatte, oder jemand, der schon einmal dort gewesen war und der, wenngleich kein Bewohner, Yins Nachbarn bekannt war, vielleicht weil sie ihn in ihrer Begleitung gesehen h atten. Sobald Yins Leiche entdeckt war, wäre der Ve r dacht rasch auf ihn gefallen, da seine Identität bekannt war. Deshalb hatte er die Wartezeit innerhalb des Gebä u des riskieren müssen.
Doch bald schon kühlte sich Chens Enthusiasmus wieder ab. Er sah ein, daß das nur eine weitere Möglic h keit unter den vielen war, die bereits in seinem Kopf ex i stierten. Und für keine gab es Beweise.
16
Plötzlich nahmen die Ermittlungen eine unerwartete Wendung. Wan Qianshen stellte sich der Polizei als Mörder von Yin Lige.
Das passierte am 14. Februar, eine Woche nachdem Lanlan Yins Leiche in dem tingzijian entdeckt hatte und zwei Tage nachdem Cai vom Alten Liang festgenommen worden war. Nach eigenen Aussagen hatte Wan den Mord nicht aus Geldgier, sondern wegen langgehegter, klassenbedingter Vorbehalte gegen sie begangen.
Zunächst war Alter Liang von dieser überraschenden Entwicklung irritiert, doch dann schwenkte er bereitwi l lig auf die neue Richtung ein, da sie seiner ursprüngl i chen Theorie von einem hausinternen Täter entsprach. Wan hatte von Anfang an auf seiner Verdächtigenliste gestanden. Auch Yu hätte eigentlich mit dieser Lösung zufrieden sein können, war es aber nicht. Als er zusa m men mit dem Alten Liang und Wan im Verhörzimmer saß, war er verwirrt.
»Yin Lige hat es verdient«, sagte Wan mit leiser, b e herrschter Stimme. »Sie hat die Partei und unser sozial i stisches System in den Schmutz gezogen. Ihr Tod war mehr als überfällig.«
»Keine politischen Vorträge bitte«, sagte Alter Liang.
»Sagen Sie uns lieber, wie Sie sie umgebracht haben«, sagte Yu und nahm sich eine Zigarette, die er dann aber nicht anzündete. »Schildern Sie den Tathergang in allen Einzelheiten.«
»Ich hatte in der Nacht davor schlecht geschlafen, in der Nacht zum 7. Februar. Also bin ich am 7. später als sonst aufgestanden, wollte aber trotzdem zum Bund g e hen. Als ich die Treppe hinunterging, kam mir Yin en t gegen. Aus Versehen habe ich sie auf der Treppe g e streift. Das war keine böse Absicht; die Treppen sind nun mal eng. Sie aber fuhr mich an: ›Noch immer der alte Aktivist für die Mao-Zedong-Ideen, was?‹
Das ging nun wirklich zu weit. Sie wagte es, mir ins Gesicht die Arbeiterklasse zu verhöhnen. Unbändige Wut packte mich. Ich wandte mich um und folgte ihr in ihr Zimmer. Dort habe ich sie mit einem Kissen erstickt, b e vor sie schreien oder sich wehren konnte.«
»Was haben Sie anschließend getan?«
»Mir wurde dann erst bewußt, daß ich sie im Affekt getötet hatte. Das war nicht meine Absicht gewesen. Also habe ich die Schubladen herausgezogen und alles durc h einandergeworfen, damit es so aussah, als sei sie aus a n deren Gründen getötet worden.«
»Als ich Sie das erste Mal vernommen habe, erzählten Sie mir, Sie hätten am Bund Tai-Chi geübt. Was vera n laßt Sie jetzt plötzlich zu diesem Geständnis?«
»Mir war klar, was mit mir passieren würde, wenn ich es zugäbe. Außerdem habe ich nicht mit Vorsatz geha n delt. Wenn sie mich an jenem Morgen nicht provoziert hätte, wäre ich nicht so in Rage geraten. Warum hätte ich dafür leiden sollen?« sagte der alte Wan und fuhr dann fort: »Aber die Verhaftung von Cai hat alles verändert. Das hat mir zu denken gegeben. Cai ist zwar ein Krim i neller, aber er sollte nicht für etwas bestraft werden, das er nicht getan hat.«
»Und inzwischen ist es Ihnen egal, was mit Ihnen pa s siert?«
»Ich habe diese Tat begangen und werde wie ein Mann die Verantwortung dafür übernehmen.«
»Wie
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