Schwarz auf Rot
Information, die er erhielt, bestätigte seine Vermutung. Die Fahrkarten nach Shenzhen, so die Auskunft, waren sehr gefragt, b e sonders die Schlafwagenplätze. Glückssucher aller Art machten sich in die Sonderwirtschaftszone auf, deshalb waren die Plätze meist schon am ersten Tag der vierzeh n tägigen Verkaufsfrist weg. Wans Fahrkarte war auf den 18. Februar ausgestellt, er hätte sie also nicht nach dem 7. Februar erstehen können, es sei denn, er hätte einem Schwarzhändler sehr viel mehr dafür bezahlt.
Yu wollte das eigentlich mit dem Alten Liang bespr e chen, doch dieser kehrte nicht zum Mittagessen in das Büro des Nachbarschaftskomitees zurück. Statt dessen rief wenig später Parteisekretär Li dort an. Der Parteik a der zeigte sich sehr zufrieden mit den jüngsten Entwic k lungen, denn nun hatte man es fraglos mit einem ganz normalen Mordfall zu tun, der keine unangenehmen Schatten auf Regierungsstellen warf.
»Das haben Sie großartig gemacht, Hauptwachtme i ster Yu«, betonte der Parteisekretär wieder und wieder.
»Aber diese plötzliche Wendung scheint mir zu dr a matisch, zu unvermittelt, Parteisekretär Li.«
»Mich überrascht sie keineswegs«, entgegnete Li. »Sie haben steten Druck ausgeübt, und schließlich hat Wan es nicht mehr ausgehalten. Hat man genug Feuer unterm Kessel, dann wird der Schweinskopf gar. Sie brauchen wirklich keine Zweifel an Wans Schuld zu haben, Hauptwachtmeister.«
»Aber wir haben Cai unter Druck gesetzt, nicht Wan.«
»Wan hat sich selbst gestellt«, sagte Li langsam, »weil er es nicht ertragen konnte, daß ein Unschuldiger an se i ner Stelle bestraft wurde.«
»Wans Aussage ist nicht schlüssig, Parteisekretär Li. Wir können uns nicht einfach auf dieses sogenannte G e ständnis verlassen«, entgegnete Yu. »Zumindest muß ich zuvor ein paar Fragen klären.«
»Zu lange können wir nicht mehr warten, Genosse Hauptwachtmeister Yu. Die Pressekonferenz ist für kommende Woche anberaumt, spätestens Montag oder Dienstag. Es ist höchste Zeit, daß diese unverantwortl i chen Spekulationen über Yins Tod ein Ende haben.«
17
Chen hatte die erste Fassung seiner englisch en Übersetzung des Projektentwurfs der New World abg e schlossen. Er war selbst erstaunt, wie schnell er es g e schafft hatte, obgleich die Arbeit damit natürlich noch längst nicht beendet war. Er würde noch einige Zeit auf die Korrektur und Überarbeitung verwenden müssen, bevor er den Text abgeben konnte.
Auch für den Mordfall schien es ein guter Tag zu sein. Obwohl Wans Geständnis etwas überraschend geko m men war, stellte es eine gleichermaßen plausible wie a k zeptable Lösung dar.
Yu jedoch hatte weiterhin so viele Bedenken, daß Chen gar nicht erst versuchte, ihn in seine eigenen u n ausgegorenen Ideen einzuweihen. Außerdem gab es im Prozeß des Schreibens und im Vorfeld einer Publikation vieles, das für den Schriftsteller selbst sehr wichtig war, einem Außenstehenden aber kaum vermittelt werden konnte.
Ende der achtziger Jahre, als Chen selbst ein publizie r ter und in literarischen Kreisen anerkannter Dichter g e wesen war, hatte er plötzlich mit dem Übersetzen vom Kriminalromanen begonnen, und niemand wußte, wa r um. Er selbst erinnerte sich, daß daran – zumindest tei l weise – eine Pekingente schuld gewesen war. Diese E n te hatte mehr gekostet, als er damals in der Tasche hatte. Das war am Ende eines wunderbaren Abendessens mit einer Freundin gewesen, die seine Gedichte so sehr schätzte, daß sie schließlich mit schlanken Fingern nach der Rechnung gegriffen hatte. Für ihn war das eine e r niedrigende Lektion in Sachen Geld gewesen. Von ebe n jener Freundin hatte er daraufhin erfahren, daß man es mit dem Übersetzen von Krimis leichter verdienen kon n te als mit dem Schreiben von Gedichten. Einige Jahre später, als eine andere Freundin ihn für die Wenhui-Zeitung interviewte, schrieb sie a nschließend in ihrem Artikel, er mache diese Übersetzungen, »um seinen pr o fessionellen Horizont zu erweitern«.
Die mysteriösen Abkürzungen am Rand von Yangs Manuskript konnten alles mögliche bedeuten; »K« wie Kaninchen beispielsweise. Die uneinheitliche Qualität von Yins Text, auf die Peiqin ihn aufmerksam gemacht hatte, konnte man den Absonderlichkeiten des kreativen Geistes zuschreiben. Chen hatte selbst nie einen Roman geschrieben, konnte sich aber vorstellen, daß es für R o manschriftsteller ähnlich schwierig war, die kreative I n tensität
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