Schwarz auf Rot
Präsidiums.«
Sie konnte unter keinen Umständen bei ihm übernac h ten. In den neuen Apartmentblocks hatte das Nachba r schaftskomitee zwar kaum noch Einfluß, aber die Leute waren dennoch wachsam. Geschichten und Gerüchte wanderten die Aufzüge und Treppenhäuser hinauf und hinunter. Und Oberinspektor Chen konnte es sich nicht leisten, solche Geschichten über sich in Umlauf zu bri n gen.
Gleichzeitig traute er sich nicht die Willensstärke e i nes Liu Xiahui zu. Dieser legendäre Konfuzianer hatte Zurückhaltung bewahrt, während ein nacktes Mädchen auf seinem Schoß saß. Chen zweifelte, ob ihm ähnliches gelänge, wenn heute ein hübsches junges Mädchen, seine kleine Sekretärin, die Nacht auf dem Sofa in seinem Zimmer verbrächte.
Es war tatsächlich eine lange Fahrt, bei der sie wenig sprach. Er fragte sich, ob sie über seine Zurückweisung enttäuscht oder gar verärgert war. Einmal lehnte sie sich auf dem Rücksitz an ihn, als sei sie ein wenig betrunken, doch dann richtete sie sich wieder auf.
Schließlich ließ sie das Taxi am Bordstein halten. »Da vorne sind Bauarbeiten. Von hier aus kann ich gut zu Fuß gehen. Es sind nur zwei, drei Minuten.«
»Ich werde Sie begleiten. Es ist sehr spät«, sagte er und dann, zum Taxifahrer gewandt: »Warten Sie hier auf mich.«
Selbst zu dieser späten Stunde lungerten an der Str a ßenecke noch Jugendliche herum; die Zigaretten, die sie sich ansteckten, schimmerten zwischen ihren Fingern wie Glühwürmchen.
Einer stieß einen schrillen Pfiff aus, als sie vorbeik a men. In der kalten Nachtluft gingen sie eine lange, schmale Gasse entlang. Ursprünglich hatte sie als Durc h gang zwischen zwei Wohnblocks gedient, aber mit den Jahren waren zu beiden Seiten illegale Hütten und Unte r künfte errichtet worden. Die Stadtregierung unternahm nichts dagegen, denn schließlich mußten diese Leute ja irgendwo wohnen. Die Gasse hatte sich dadurch in einen schmalen Gang verwandelt, der nicht genug Platz für zwei Nebeneinandergehende bot. Schweigend folgte er ihr und mußte dabei immer wieder Kohleherden oder im Freien gestapelten Kohlvorräten ausweichen. Das hier war ein denkbar scharfer Kontrast zum Golden Times Rolling Backward.
Kein Wunder, daß Weiße Wolke neben ihrem Studium an der Fudan-Universität so hart im Dynasty Club arbe i ten mußte.
Sie wollte um jeden Preis ein anderes Leben als das ihrer Eltern.
Daß Armut keine Entschuldigung dafür sei, was Leute mit ihrem Leben anfingen, war leicht gesagt. Schwer d a gegen war es für ein junges Mädchen, den Parteirichtlin i en gemäß ein einfaches, arbeitsames Leben zu führen. Soviel ihm bekannt war, lebten selbst Parteimitglieder heute kaum mehr nach diesem Grundsatz.
Er verabschiedete sich vor einer ebenerdigen Hütte von ihr und ging zum Taxi zurück. Als er sich kurz da r auf nach ihr umsah, stand sie noch immer vor der Tür. Die Hütte wirkte wie gestaucht; ihr Dach begann nur w e nige Zentimeter über ihrem Haar. Im Dunkeln konnte er zu seiner Überraschung eine kleine, blühende Topfpfla n ze ausmachen, die zur Dekoration auf den Dachvo r sprung gestellt worden war.
Während das Taxi seinen Weg aus dem Gassengewirr der Slums suchte, hatte er das merkwürdige Gefühl, daß die Stadt auf einmal in zwei disparate Hälften zerfiel. Die eine Hälfte bestand aus shikumen -Häusern , engen Gassen und Slums wie diesen hier, wo die Bewohner nach wie vor nicht wußten, wie sie über die Runden kommen sol l ten. Die andere Hälfte setzte sich aus schicken Bars wie jenen an der Hengshan Lu, den noblen Apartmentko m plexen in Hongqiao und der künftigen New World z u sammen.
Als Gu zum ersten Mal mit diesem ehrgeizigen Ba u projekt an ihn herangetreten war, hatte Chen die New World und derartige Unternehmungen als einen unwir k lichen Mythos betrachtet. Aber er hatte sich geirrt. Kein Mythos konnte überleben, wenn er nicht in der Realität verankert war.
Zu einem solchen Mythos gehörte natürlich auch die Kehrseite, die niemals zur Sprache kam: das Leiden all derer, die davon ausgeschlossen blieben. Dieser Teil war Oberinspektor Chen aus seinen Grundschullesebüchern wohlbekannt. Zur damaligen Zeit war der Glamour jener ruhmreichen Zeit als dekadent, böse und ausbeuterisch dargestellt worden. Damals war das Augenmerk au s schließlich auf die Kehrseite der glitzernden Fassade g e richtet gewesen, und was da zu sehen war, hatte die kommunistische Revolution gerech t fertigt.
Das war bis zu einem gewissen
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