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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Grad wahr und richtig gewesen. Was sich inzwischen geändert hatte, war der Blickwinkel, Das Augenmerk lag nun auf der Vorde r front, dem Glamour und Glitzer, eine Sichtweise, die nun ihrerseits die Umkehrung der kommunistischen Revol u tion rechtfertigte, auch wenn die Partei das niemals z u gegeben hätte.
    Chen war ganz durcheinander. Die Geschichtsdarste l lungen in den Lehrbüchern erschienen ihm plötzlich wie die bunten Bälle in den Händen eines Jongleurs.
    Wenn man die Wahrheit nicht mehr in Lehrbüchern fand, wo sollte man sie sonst suchen?
    Was konnte er, ein kleiner Polizist, tun? Früher einmal hatten solche Fragen ihn beschäftigt, doch diese Grüb e leien hatte er längst aufgegeben.
    Aber als Polizist mußte Oberinspektor Chen sich fr a gen, ob er, wenn er an sein Telefongespräch mit Zhuang zurückdachte, tatsächlich das Richtige getan hatte.

18

    Yu erwachte früh am Sonntag morgen, beschloß aber, noch ein bißchen liegenzubleiben. Diese Entsche i dung entsprang einer gewissen Notwendigkeit. In dem winz i gen Zimmer, das sich die Familie teilte, mußten die and e ren folgen, sobald einer aufstand.
    Qinqin hatte gestern abend noch bis spät gelernt. Heutzutage arbeiteten die Oberschüler wie die Verrüc k ten. Peiqin sorgte dafür, daß er lernte, denn für sie stand fest, daß ihr Sohn eine erstklassige Universität besuchen sollte. »Er soll es einmal besser haben als wir«, lautete ihr Argument.
    Sicher meinte sie es nicht so, aber Yu hörte immer e i nen gewissen Vorwurf heraus, vor allem weil er selbst nicht in der Lage war, Qinqin zu helfen. Peiqin war di e jenige, die für die Überwachung der Hausaufgaben z u ständig war. Yu war damit erwiesenermaßen überfordert.
    Qinqin schlief noch tief und fest auf dem Klappsofa. Seine Füße hingen über den Rand. Er war zu einem gr o ßen, schlaksigen Jungen herangewachsen, und das Sofa war eigentlich zu klein für ihn.
    Normalerweise war Peiqin um diese Zeit längst b e schäftigt, aber heute war Sonntag, und sie hatte gestern noch bis spät mit ihrem Sohn Matheaufgaben gelöst. Im Morgenlicht wirkte ihr Gesicht blaß und müde.
    Während Yu wach im Bett lag, bedrängten ihn die Sorgen um die jüngsten Entwicklungen im Fall Yin. Er war sich des Drucks bewußt, der auf dem Präsidium l a stete und der für Parteisekretär Li natürlich besonders u n angenehm war. Die Nachricht von Yins tragischem Tod hatte nicht nur in China, sondern auch im Ausland zu heftigen Spekulationen geführt. In mehreren ausländ i schen Zeitungen war über den Fall berichtet worden, was auch in Shanghai die Diskussionen w eiter anheizte. Yins Roman war mittlerweile von einem Samisdat-Verlag nachgedruckt worden und verkaufte sich in den privaten Buchhandlungen wie warme Semmeln. Fei Weijin, der Propagandaminister von Shanghai, war über diese En t wicklungen so beunruhigt, daß er persönlich im Präsid i um vorgesprochen und erklärt hatte, je länger das Verbrechen unaufgeklärt bliebe, desto größer sei der Schaden für das Image des neuen China.
    Entsprechend eilig hatte es Parteisekretär Li, Wan, entgegen Yus Bedenken, endlich als Mörder überführen zu können. Alle Versuche Yus, Li von der Notwendigkeit weiterer Ermittlungen zu überzeugen, waren wie Eier, die man gegen eine Betonmauer schleuderte.
    Yu stellte sich vor, wie Chen mit dem Filz der amtsi n ternen Politik umzugehen pflegte, doch in letzter Zeit hatte er auch an seinem Chef einiges auszusetzen. So war er sich zum Beispiel sicher, bei ihrem gestrigen Telefo n gespräch im Hintergrund das Wispern einer Frauensti m me und leise Musik gehört zu haben. Was Chen trieb, ging ihn nichts an. In dessen Position konnte man es sich leisten, seinen Spaß zu haben; er hatte ein »lukratives« Projekt, eine vielversprechende Karriere und eine »kleine Sekretärin«, die er nicht einmal bezahlen mußte. De n noch war Yu nicht wohl bei dem Gedanken.
    Zugleich mußte er ihn für seine wertvollen Hinweise bewundern. Wie schaffte es Chen, inmitten einer eiligen Übersetzungsarbeit solche Hypothesen zu entwickeln? Aber es waren eben leider nur Hypothesen, die durch nichts zu belegen waren. Yu selbst hatte ja bereits erfol g lose Vorstöße in diese Richtung unternommen.
    Peiqin neben ihm bewegte sich, vielleicht träumte sie.
    Plötzlich überkam ihn eine Welle des Selbstmitleids, aber mehr noch Mitleid für Peiqin und Qinqin. All ihre gemeinsamen Jahre hatten sie, zusammengepfercht in diesem winzigen shikumen -Zimmer,

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