Schwarz auf Rot
kann auch Parteisekretär Li das nicht vom Tisch wischen.«
»Das meine ich auch«, sagte Hauptwachtmeister Yu in einem Ton, der seine ganze Frustration durchklingen ließ. »Aber als ich nachgehakt habe, ist Li pampig g e worden: ›Das ist ein Fall von höchster politischer Bede u tung!, hat er geblafft. Jemand hat ein Geständnis abg e legt, und Sie wollen immer weiter ermitteln. Wozu das alles, Genosse Hauptwachtmeister Yu?‹«
»Li hat nichts als Politik im Kopf.« Normalerweise war es Chen, der mit Li über »politisch bedeutsame Fä l le« zu verhandeln hatte. Er konnte Yus Frust gut nac h fühlen.
»Wenn politische Erwägungen über allem anderen stehen, wozu arbeitet man dann noch als Polizist?« fragte Yu. »Wo sind Sie denn, Chef? Ich höre Musik im Hi n tergrund.«
»Bei einem Geschäftsessen, das mein Übersetzung s projekt betrifft.« Das kam der Wahrheit immerhin nahe, dachte Chen. Ihn irritierte weniger die Frage als seine Antwort. »Kein Problem. Reden Sie weiter, Haup t wachtmeister Yu.«
Schweigend goß Weiße Wolke ihm Wein nach.
»Und nach dem Gespräch mit Parteisekretär Li, raten Sie mal, wen ich da vor dem Büro getroffen habe. Li Dong.«
»Ah, Li Dong.« Li war ein ehemaliger Ermittler der Sonderkommission, der den Polizeidienst verlassen hatte, um ein privates Obstgeschäft aufzumachen. »Wie geht es ihm denn?«
»Li Dong hat seinen Laden zu einer Kette erweitert, die inzwischen den Shanghaier Flughafen und den Bah n hof mit Früchten beliefert. Er hat seine Kontakte, die er während des Polizeidiensts gemacht hat, nutzen können. Jetzt redet er wie ein völlig anderer Mensch: › Inzwischen bringt mir der monatliche Umsatz am Flughafen allein mehr ein als mein Jahresgehalt als Ordnungshüter, ‹ sagte er zu mir. ›Sie arbeiten noch immer dort, Hauptwach t meister? Das verstehe ich nicht.‹«
»Dieser kleine Halunke. Kaum hat er ein bißchen Geld, schon spuckt er große Töne. Wie kann er sich so gewandelt haben? Es ist doch erst ein Jahr her, seit er das Präsidium verlassen hat.«
Aber das war nicht die Antwort, die Yu hören wollte, und Chen wußte das. Wozu hatte Hauptwachtmeister Yu so hart gearbeitet? Die offizielle Antwort lautete: um sich für die geheiligte Sache des Kommunismus einzusetzen. So war es zumindest gelegentlich noch in den Parteio r ganen zu lesen, aber jeder wußte, daß das ein Witz war.
Auch Oberinspektor Chen arbeitete hart, doch er kon n te zumindest sagen, daß er es für seinen Aufstieg tat und für die Vergünstigungen, die damit verbunden w a ren: Wohnung, Dienstwagen, verschiedene Zulagen – und nicht zuletzt gut bezahlte Aufträge wie der von Herrn Gu. Auch der hing natürlich mit seiner Position zusammen.
Aus Sicht des Sozialdarwinismus war das durchaus einleuchtend. In jedem Sozialsystem versuchen die Sta r ken, an der Macht zu bleiben, seien sie nun Führung s kräfte im Kapitalismus oder Parteikader im Kommuni s mus. Auf diesen Gedanken war er erstmals in dem R o man Martin Eden gestoßen, den Yang übersetzt hatte.
»Ihr Steak wird kalt«, flüsterte Weiße Wolke und schnitt ein Stück ab, um ihn zu füttern.
Er wehrte mit einer Handbewegung ab.
Er konnte auch behaupten, daß er für einen Abend wie diesen, mit einer kleinen Sekretärin an seiner Seite, arbe i tete.
»Wo sind Sie, Yu?«
»Zu Hause.«
»Kann ich Sie in fünf Minuten zurückrufen?«
Die monatliche Rechnung für sein Mobiltelefon würde auch diesmal wieder astronomisch werden. Sie wurde zwar vom Präsidium bezahlt, aber Chen wollte nicht schon wieder hochgezogene Augenbrauen riskieren. A u ßerdem wollte er vor Weißer Wolke nicht noch mehr s a gen.
Der antike Apparat in der Ecke funktionierte noch. Es war der öffentliche Fernsprecher der Bar. Natürlich wü r den die statusbewußten Gäste mit ihren Mobiltelefonen nie daran denken, ihn zu benutzen.
Chen nahm den Hörer ab und wählte Yus Nummer.
»Ich habe mir einige Gedanken über den Fall g e macht«, nahm Chen den Faden wieder auf. Die akust i sche Qualität des Apparats war infolge seines Alters nicht mehr die beste, aber man konnte sich verständigen. »In einem shikumen wie diesem, wo überall Gerümpel herumsteht, wäre es durchaus denkbar, daß jemand sich verborgen gehalten hat, um einen günstigen Augenblick zur Flucht abzuwarten, wenn die Krabbenfrau mal für kurze Zeit ihren Posten verließ. Das hat mich auf die Frage gebracht: Warum mußte der Mörder sich verbe r gen, wenn er ein Fremder
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