Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Aufsteigen be-
    gann.
    Mit verdoppelter Aufmerksamkeit blickte Harry rund
    um sich. Jetzt drohte eine mögliche Gefahr ja nicht mehr
    ihm allein.
    Während der ersten Minuten dieser Fahrt nach oben
    ging alles nach Wunsch, und kein Unfall schien ihm zu
    drohen, als er plötzlich eine heftigere Luftbewegung wahr-
    nahm, die vom Grund des Schachts ausgehen mußte. Er sah
    unter sich und bemerkte bald im Halbdunkel einen sich
    nach und nach emporschwingenden Körper, der ihn im Vo-
    rüberschweben streifte.
    Es war ein ungeheurer Vogel, dessen Art er nicht erken-
    nen konnte, und der mit mächtigem Flügelschlag empor-
    stieg.
    Das furchtbare beflügelte Tier hielt an, schwebte einen
    Augenblick in ein und derselben Höhe hin und stieß dann
    wütend auf Harry nieder.
    Harry konnte nur von seinem rechten Arm Gebrauch
    machen, um die Schläge des gewaltigen Schnabels dieses
    Tiers abzuwehren.
    Er verteidigte sich jedoch nach Kräften und suchte dabei
    das Kind so gut wie möglich zu schützen. Die Angriffe des
    Vogels galten aber auch gar nicht dem Kind, sondern ihm
    allein. Durch die Drehungen des Seils behindert, gelang es
    ihm auch nicht, den Vogel tödlich zu treffen.
    Der Kampf zog sich in die Länge. Harry rief aus Leibes-
    kräften, in der Hoffnung, oben gehört zu werden.

    — 185 —
    — 186 —
    Es geschah, was er hoffte, das Seil stieg schneller mit ihm
    empor.
    Noch lag eine Strecke von etwa 80 Fuß vor ihm. Da gab
    der Vogel seine direkten Angriffe gegen ihn auf. Jetzt drohte
    aber eine weit schrecklichere Gefahr, denn er krallte sich
    2 Fuß über Harrys Kopf und so weit, daß er ihn mit der
    freien Hand nicht erreichen konnte, an dem Seil fest und
    suchte es mit seinem furchtbaren Schnabel zu zerstören.
    Harrys Haare sträubten sich.
    Eine Trosse war schon zerhackt und zerrissen. Mehr als
    100 Fuß über dem Grund der Schlucht begann das Seil sich
    zu dehnen.
    Harry stieß einen entsetzlichen Schrei aus.
    Eine zweite Trosse löste sich unter der doppelten Last,
    die das halb zerstörte Seil jetzt tragen mußte.
    Harry ließ sein Messer fallen, und es gelang ihm ver-
    möge einer übermenschlichen Anstrengung, gerade als das
    Seil dem Zerreißen nah war, es mit der rechten Hand über
    der durch den Schnabel des Vogels zerbissenen Stelle zu er-
    greifen. Trotz seiner eisenfesten Hand fühlte er das Seil aber
    doch langsam durch seine Finger gleiten.
    Er hätte sich daran mit zwei Händen halten können,
    wenn er das Kind opferte, das sein linker Arm noch hielt ...
    Nein, er wollte daran gar nicht denken.
    Inzwischen zogen ihn Jack Ryan und die beiden anderen
    Bergleute, da sie Harrys verzweifeltes Rufen vernommen
    hatten, immer schneller empor.
    Harry glaubte nicht, daß seine Kräfte ausreichen wür-
    — 187 —
    den, bis er die Schachtmündung erreichte. Das Blut schoß
    ihm ins Gesicht. Einen Augenblick schloß er die Augen mit
    der gräßlichen Erwartung, in die Tiefe zu stürzen, dann öff-
    nete er sie wieder ...
    Der offenbar erschreckte Vogel war verschwunden.
    Gerade als Harrys Hand das Seil entgleiten wollte, um
    dessen äußerstes Ende seine Faust sich krampfhaft schloß,
    wurde er von seinen Gefährten ergriffen und samt dem
    Kind auf den Boden niedergelegt.
    Doch eine Nachwirkung konnte hier ja nicht ausblei-
    ben. – Harry war bewußtlos in den Armen seiner Kamera-
    den zusammengebrochen.
    15. KAPITEL
    Nell im Cottage
    2 Stunden später kamen Harry, der die Besinnung nicht so
    schnell wiedererhalten hatte, und das überaus schwache
    Kind mit Hilfe Jack Ryans und seiner Kameraden im Cot-
    tage an.
    Jetzt erzählte man dem alten Obersteiger das Vorgefal-
    lene, und Madge widmete dem armen, von ihrem Sohn ge-
    retteten Geschöpf die sorgsamste Pflege.
    Harry hatte ein Kind aus dem Abgrund zu bringen ge-
    glaubt ... es war schon ein junges Mädchen von etwa 16 Jah-
    ren. Ihr irrender, verwunderter Blick, ihr eingefallenes Ge-
    sicht, dem man die Spuren grausamer Leiden ansah, ihre
    — 188 —
    helle Farbe, die vom Tageslicht noch unberührt schien, ihre
    zarte und niedliche Gestalt – alles ließ sie ebenso fremdartig
    wie reizend erscheinen. Jack Ryan verglich sie mit einigem
    Recht mit einem Kobold von etwas übernatürlichem Aus-
    sehen. War es eine Folge der eigentümlichen Umstände, der
    ganz ungewöhnlichen Umgebung, in der das junge Mäd-
    chen bis jetzt offenbar gelebt hatte, daß sie dem mensch-
    lichen Geschlecht nur zur Hälfte anzugehören schien? Ihr
    Gesichtsausdruck mußte

Weitere Kostenlose Bücher