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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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jedem auffallen. Erstaunt und
    doch schüchtern blickten ihre Augen, welche die Lampen
    des Cottage anzustrengen schienen, umher, als ob ihnen al-
    les neu erschiene.
    Die alte Schottin richtete an dieses eigentümliche Wesen,
    das man auf Madges Bett niedergelegt hatte, und das wie-
    der zum Leben kam, als erwache es aus einem jahrelangen
    Schlaf, einige freundliche Worte.
    »Wie heißt du, mein Kind?« fragte sie.
    »Nell«,* antwortete das junge Mädchen.
    »Fehlt dir etwas, Nell?« fuhr Madge fort.
    »Ich habe Hunger«, erwiderte Nell. »Oh, ich habe nichts
    gegessen seit ... seit ...«
    Man hörte es schon bei diesen wenigen Worten, daß Nell
    nicht gewöhnt war, zu sprechen. Ihr Dialekt war der altgä-
    lische, den auch Simon Ford und die Seinigen häufig ge-
    brauchten.
    Madge brachte dem jungen Mädchen einige Nahrung.
    * Nell ist eine Abkürzung von Helen.

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    Nell war nah daran, vor Hunger zu sterben. Seit wann be-
    fand sie sich am Grund jenes Schachts? Niemand wußte es.
    »Wie viele Jahre lang warst du dort unten, meine Toch-
    ter?« fragte sie Madge.
    Nell antwortete nicht; sie schien den Sinn der Worte
    nicht zu fassen.
    »Seit wieviel Tagen?« wiederholte Madge.
    »Tagen ...?« erwiderte Nell, für die das Wort gar keine
    Bedeutung zu haben schien.
    Dann schüttelte sie kurz mit dem Kopf, wie jemand, der
    eine an ihn gestellte Frage nicht versteht.
    Madge hatte Nells Hand ergriffen und streichelte sie, um
    jene zutraulicher zu machen.
    »Wie alt bist du denn, mein Kind?« fragte sie weiter und
    schaute ihr freundlich ins Gesicht.
    Dasselbe verneinende Zeichen von Nells Seite.
    »Nun, ich meine, wie viele Jahre zählst du?« erläuterte
    Madge ihre Frage.
    »Jahre ...?« antwortete Nell verwundert.
    Wie für das Wort ›Tag‹ schien das junge Mädchen auch
    für dieses zweite kein Verständnis zu haben.
    Simon Ford, Harry, Jack Ryan und die übrigen betrach-
    teten sie mit dem doppelten Gefühl des Mitleids und der
    Sympathie. Der Zustand des armen, mit einem groben Rock
    bekleideten Wesens rührte sie innig.
    Besonders Harry fühlte sich, noch mehr als die anderen,
    von der Eigenart Nells angezogen. Er sah Nell, deren Lippen

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    sich dabei zu einem leichten Lächeln zu öffnen schienen,
    offen ins Gesicht und sagte:
    »Nell ... da unten ... in der Grube ... warst du da al-
    lein?«
    »Allein! Allein!« rief das junge Mädchen, sich aufrich-
    tend.
    In ihrem Antlitz malte sich jetzt der Schrecken. Ihre un-
    ter den Blicken des jungen Mannes so sanften Augen sprüh-
    ten jetzt ein fast unheimliches Feuer.
    »Das arme Kind ist noch zu schwach, uns Rede und
    Antwort zu stehen«, meinte Madge, nachdem sie das junge
    Mädchen wieder niedergelegt hatte. »Einige Stunden Ruhe
    und dann etwas Speise und Trank werden sie schon wieder
    kräftigen. Komm, Simon, und du, Harry, und kommt ihr an-
    deren alle, lassen wir sie ruhig schlummern!«
    Auf Madges Rat wurde Nell allein gelassen, und kurz
    darauf konnte man sich schon überzeugen, daß sie fest ein-
    geschlafen war.
    Das ganze seltsame Ereignis verfehlte natürlich nicht,
    erst in dem Kohlenbergwerk, dann in der Grafschaft Stir-
    ling und endlich im ganzen Vereinigten Königreich das
    größte Aufsehen zu erregen. Die wunderbarsten Gerüchte
    über Nell kamen in Umlauf. Hätte man ein junges Mäd-
    chen direkt in dem Schieferfelsen gefunden, wie eines jener
    vorsintflutlichen Geschöpfe, die Hammer und Fäustel des
    Bergmanns manchmal aus dem Jahrtausende alten Felsen-
    grab wieder an das Licht bringen, das Aufsehen wäre kaum
    größer gewesen.
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    Sich selbst unbewußt, kam Nell sozusagen in Mode.
    Abergläubische Leute fanden hier eine neue Grundlage für
    ihre Legenden. Sie glaubten steif und fest, Nell sei die gute
    Fee von New Aberfoyle, wie Jack Ryan das auch seinem
    Freund Harry gegenüber aussprach.
    »Es sei«, erwiderte Harry, um ein solches Gespräch nicht
    auszudehnen, »es sei, Jack. Aber jedenfalls ist sie nur die
    gute Fee. Sie war es, die uns zu Hilfe kam und uns Brot und
    Wasser brachte, als wir in der Kohlengrube eingesperrt wa-
    ren. Das kann nur sie gewesen sein. Wenn der andere böse
    Geist aber noch in der Grube haust, dann werden wir ihn
    schon eines Tages entdecken.«
    Es versteht sich von selbst, daß man den Ingenieur James
    Starr schleunigst über das Vorgefallene informierte.
    Das junge Mädchen, das am Tag nach der Ankunft im
    Cottage ihre Kräfte völlig wiedergewonnen

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