Schwarz-Indien
jedem auffallen. Erstaunt und
doch schüchtern blickten ihre Augen, welche die Lampen
des Cottage anzustrengen schienen, umher, als ob ihnen al-
les neu erschiene.
Die alte Schottin richtete an dieses eigentümliche Wesen,
das man auf Madges Bett niedergelegt hatte, und das wie-
der zum Leben kam, als erwache es aus einem jahrelangen
Schlaf, einige freundliche Worte.
»Wie heißt du, mein Kind?« fragte sie.
»Nell«,* antwortete das junge Mädchen.
»Fehlt dir etwas, Nell?« fuhr Madge fort.
»Ich habe Hunger«, erwiderte Nell. »Oh, ich habe nichts
gegessen seit ... seit ...«
Man hörte es schon bei diesen wenigen Worten, daß Nell
nicht gewöhnt war, zu sprechen. Ihr Dialekt war der altgä-
lische, den auch Simon Ford und die Seinigen häufig ge-
brauchten.
Madge brachte dem jungen Mädchen einige Nahrung.
* Nell ist eine Abkürzung von Helen.
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Nell war nah daran, vor Hunger zu sterben. Seit wann be-
fand sie sich am Grund jenes Schachts? Niemand wußte es.
»Wie viele Jahre lang warst du dort unten, meine Toch-
ter?« fragte sie Madge.
Nell antwortete nicht; sie schien den Sinn der Worte
nicht zu fassen.
»Seit wieviel Tagen?« wiederholte Madge.
»Tagen ...?« erwiderte Nell, für die das Wort gar keine
Bedeutung zu haben schien.
Dann schüttelte sie kurz mit dem Kopf, wie jemand, der
eine an ihn gestellte Frage nicht versteht.
Madge hatte Nells Hand ergriffen und streichelte sie, um
jene zutraulicher zu machen.
»Wie alt bist du denn, mein Kind?« fragte sie weiter und
schaute ihr freundlich ins Gesicht.
Dasselbe verneinende Zeichen von Nells Seite.
»Nun, ich meine, wie viele Jahre zählst du?« erläuterte
Madge ihre Frage.
»Jahre ...?« antwortete Nell verwundert.
Wie für das Wort ›Tag‹ schien das junge Mädchen auch
für dieses zweite kein Verständnis zu haben.
Simon Ford, Harry, Jack Ryan und die übrigen betrach-
teten sie mit dem doppelten Gefühl des Mitleids und der
Sympathie. Der Zustand des armen, mit einem groben Rock
bekleideten Wesens rührte sie innig.
Besonders Harry fühlte sich, noch mehr als die anderen,
von der Eigenart Nells angezogen. Er sah Nell, deren Lippen
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sich dabei zu einem leichten Lächeln zu öffnen schienen,
offen ins Gesicht und sagte:
»Nell ... da unten ... in der Grube ... warst du da al-
lein?«
»Allein! Allein!« rief das junge Mädchen, sich aufrich-
tend.
In ihrem Antlitz malte sich jetzt der Schrecken. Ihre un-
ter den Blicken des jungen Mannes so sanften Augen sprüh-
ten jetzt ein fast unheimliches Feuer.
»Das arme Kind ist noch zu schwach, uns Rede und
Antwort zu stehen«, meinte Madge, nachdem sie das junge
Mädchen wieder niedergelegt hatte. »Einige Stunden Ruhe
und dann etwas Speise und Trank werden sie schon wieder
kräftigen. Komm, Simon, und du, Harry, und kommt ihr an-
deren alle, lassen wir sie ruhig schlummern!«
Auf Madges Rat wurde Nell allein gelassen, und kurz
darauf konnte man sich schon überzeugen, daß sie fest ein-
geschlafen war.
Das ganze seltsame Ereignis verfehlte natürlich nicht,
erst in dem Kohlenbergwerk, dann in der Grafschaft Stir-
ling und endlich im ganzen Vereinigten Königreich das
größte Aufsehen zu erregen. Die wunderbarsten Gerüchte
über Nell kamen in Umlauf. Hätte man ein junges Mäd-
chen direkt in dem Schieferfelsen gefunden, wie eines jener
vorsintflutlichen Geschöpfe, die Hammer und Fäustel des
Bergmanns manchmal aus dem Jahrtausende alten Felsen-
grab wieder an das Licht bringen, das Aufsehen wäre kaum
größer gewesen.
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Sich selbst unbewußt, kam Nell sozusagen in Mode.
Abergläubische Leute fanden hier eine neue Grundlage für
ihre Legenden. Sie glaubten steif und fest, Nell sei die gute
Fee von New Aberfoyle, wie Jack Ryan das auch seinem
Freund Harry gegenüber aussprach.
»Es sei«, erwiderte Harry, um ein solches Gespräch nicht
auszudehnen, »es sei, Jack. Aber jedenfalls ist sie nur die
gute Fee. Sie war es, die uns zu Hilfe kam und uns Brot und
Wasser brachte, als wir in der Kohlengrube eingesperrt wa-
ren. Das kann nur sie gewesen sein. Wenn der andere böse
Geist aber noch in der Grube haust, dann werden wir ihn
schon eines Tages entdecken.«
Es versteht sich von selbst, daß man den Ingenieur James
Starr schleunigst über das Vorgefallene informierte.
Das junge Mädchen, das am Tag nach der Ankunft im
Cottage ihre Kräfte völlig wiedergewonnen
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