Schwarz. Weiß. Tot.: Storys
Kapitalverbrechen.
Die Haare der Empfangsdame waren oben auf ihrem Kopf zu einem Nest aufgetürmt, die Art Durcheinander, die ein Vermögen kostete,
und sie trug eine halb transparente Bluse. Sie erklärte mir, Signore Tocci sei sehr beschäftigt und ich solle warten. Dabei
zeigte sie auf Designerstühle an einem Chromtisch. Ich sah ihr an, dass sie mit meiner Anwesenheit in ihrem schönen Foyer
nicht einverstanden war.
»Einen Augenblick«, sagte sie und flüsterte in ein hellgelbes Telefon.
»Zehn Minuten«, sagte sie. »Dann wird Signore Tocci Sie empfangen.«
Ich setzte mich auf einen der Stühle. Echtes Leder, straff über ein glänzendes Chromgestell gespannt. Ungemütlich. Gatto würde
sich nicht wohlfühlen. Ich legte die Papiertüte auf den Stuhl neben mir und griff nach einem Buch, das auf dem Tisch lag.
La Storia dei Pattini
. Die Geschichte des Schuhs. Ich schlug es auf. Ein Foto zeigte eine Art Pantoffeln, |113| aber vorne lang und spitz zulaufend und nach oben gebogen.
Die langgezogenen Spitzen kamen bereits 1500 Jahre vor Christus auf und konnten im dreizehnten Jahrhundert eine Länge von
bis zu dreißig Zoll erreichen
, besagte der Text.
Eintausendfünfhundert Jahre vor Christus. Gab es so alte Schuhe? Ich warf einen Blick auf die verschlissenen braunen Lederexemplare
an meinen Füßen. Gewiss doch.
»Signore Tocci erwartet Sie, Ispettore.«
Ich betrat ein geräumiges Büro. An der Wand gegenüber dem Fenster waren in einer beleuchteten Glasvitrine Schuhe ausgestellt.
Tocci saß an einem Schreibtisch, der im Gegensatz zum Chromambiente in der Empfangshalle aus tiefbraunem Eichenholz bestand.
Er blieb sitzen, fuhr zu schreiben fort, und ich musste warten, bis er den Blick hob. Er war grauhaarig, etwas über sechzig,
aber rüstig. Der Körper im Fitnessstudio gestählt. Elegante Hände, dicke Armbanduhr. Schwarzer Pullover mit Polokragen. Damit
ihm durch meine Anwesenheit nicht die Luft wegblieb?
»Setzen Sie sich«, befahl er, nachdem er mich gemustert hatte.
Ich holte den Schuh heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. »Gehe ich recht in der Annahme, dass dieses Modell hier von
Ihnen stammt, Signore Tocci?«
Er nahm den Schuh in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Auf seinen Händen wuchsen schwarze Haare, aber auch sie
waren gepflegt, sorgfältig manikürt.
»Dieses hier stammt nicht aus meiner Fabrik«, behauptete er endlich.
»Das können Sie erkennen?«
|114| »Selbstverständlich. Sehen Sie hier, die Sohle. Das Leder ist nicht gebürstet.«
»Nicht gebürstet«, wiederholte ich.
»Wenn es nicht gebürstet ist, heißt das, dass die künftige Trägerin ständig damit ausrutschen wird.« Zum ersten Mal sah er
mir ins Gesicht und erkannte, dass ich ihn nicht verstand.
»Kennen Sie sich ein wenig mit der Herstellung von Schuhen aus, Ispettore?«
»Nein, Signore.«
»Sie verläuft in vier Stadien«, erklärte er mit einigem Eifer, wie ein stolzer Lehrmeister. »Zuerst kommt der Zuschnitt: Aus
größeren Hautstücken wird das Material für den Schuh nach einem bestimmten Muster ausgestanzt. Dies ist ein hochtechnisierter
Prozess. Leder ist teuer und darf nicht verschwendet werden. Anschließend folgt das Zusammenfügen der einzelnen Schaftteile,
das wir
telai macchine
nennen, flache Maschine. Erst in einem späteren Stadium, das wir als
macchine dell’alberino
bezeichnen, die Nachmaschine, wenn Sie so wollen, wird der unfertige Schuh über den Leisten gezogen – ›gezwickt‹ in der Fachsprache
– und erhält dabei seine dreidimensionale Form. In diesem Stadium werden zum Beispiel auch die Ösen für spätere Schnürsenkel
angebracht.«
»Ich verstehe.«
»Dann folgt die
rifinitura
, die Verfeinerungsphase, in der etwa Muster auf dem Leder aufgebracht werden, wenn es das Modell erfordert. Dies ist die
erste Phase, in der sich die Arbeit verschiedener Fabriken deutlich voneinander unterscheidet, wobei ich sagen muss, dass
die Ausarbeitung |115| dieses Schuhs alles andere als minderwertig ist. Es hätte einer von meinen sein können. Zuletzt kommt das
durare
, die Arbeitsphase, in der Sohlen und Absätze verleimt und genagelt werden – und auch die Sohle gebürstet wird, wenn sie aus
Leder ist. Dies ist für gewöhnlich die Phase, in der die Fabrik dem Schuh ihren unverwechselbaren Stempel aufdrückt. Und ich
kann deutlich erkennen, dass dieses Exemplar nicht aus meiner Fabrik stammt.«
»Kannten Sie zufällig das
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