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Schwarz. Weiß. Tot.: Storys

Titel: Schwarz. Weiß. Tot.: Storys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deon Meyer
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aus Wikipedia«, erklärte sie.
    October wusste nicht, wovon sie redete. Er las den ersten Absatz und gab dann auf. »Kannst du mir das vielleicht erklären?«
    Sie kaute schon wieder, und es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. »Es hat mit Quantenphysik zu tun«, sagte sie. »Im
     Grunde läuft es darauf hinaus, dass Materie |163| keine perfekten kleinen Sonnensysteme bildet, sondern eher eine Art Wolke, mit dem Potenzial, sich in die verschiedensten
     Richtungen zu entwickeln. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, was daraus entstehen kann. Abgefahren, was? In der Schule
     wird Quantenphysik nicht gelehrt, weil man befürchtet, die Kinder könnten es mit der Angst zu tun bekommen. Aber was noch
     abgefahrener ist … Hast du schon mal von Eugene Wigner gehört?«
    Er schüttelte den Kopf. Nein, hatte er nicht.
    »Das war der Typ, der den Nobelpreis für Quantenphysik bekommen hat. Egal, jedenfalls gehörte er zu den Wissenschaftlern,
     die behauptet haben, Materie erhalte erst ihre Form, wenn man sie ansehe. Und ich glaube, mit der Zeit verhält es sich genauso.«
     Sie sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als erwarte sie etwas von ihm, eine Reaktion, eine Bestätigung dafür, wie
abgefahren
das war.
    »Nita«, sagte er überaus geduldig, aber hoffnungslos, denn er glaubte, seine Befürchtungen würden sich bewahrheiten. »Ich
     habe keinen blassen Schimmer, wovon du redest.«
    Sie lehnte sich nach vorn und sah ihn ernst an. »Es kann sehr gut sein, dass Materie erst ihre Form erhält, wenn jemand –
     ein Mensch – sie ansieht. Und ich glaube, mit der Zeit ist es genauso. Du weißt schon – dass sie formlos ist. Bis wir etwas
     mit ihr anstellen …« Sie blickte sich um, und ihr schien etwas einzufallen. »Dieser Klops hier …«, sagte sie und zeigte mit
     der Gabel auf ihren Teller.
    »Der Kabob.«
    »Genau. Der sieht aus wie eine Frikadelle, aber wenn man ihn aufschneidet, wird er zum Kabob. Und die Zeit ist genauso, verstehst
     du?«
    |164| »Nein«, erwiderte er.
    Sie seufzte. »Okay. Vielleicht sollte ich dir einfach erzählen, wie alles angefangen hat. Aber darf ich bitte vorher aufessen?
     Das Essen ist einfach genial!«
     
    Während sie ihre Geschichte erzählte, sah er sie unverwandt an. Er glaubte nicht daran, etwas wirklich Ernsthaftes zu erfahren,
     und erkannte immer deutlicher, wie jung sie noch war. Ein Kind im Körper einer Frau.
    Sie sagte, als kleines Mädchen sei sie ganz normal gewesen, wobei sie mit Messer und Gabel flüchtig Anführungszeichen andeutete.
     Sie war als einziges Kind eines Geschäftsmannes und einer Sekretärin in einem Haus in Monte Vista aufgewachsen – eine ganz
     normale Durchschnittsfamilie. Im Alter zwischen zehn und zwölf hatte sie öfter einmal das Gefühl gehabt, den Anschluss an
     die Zeit verpasst zu haben. Wenn sie für eine Weile ganz in Gedanken versunken gewesen war und wieder zu sich kam, erschrak
     sie manchmal, weil sie ein starkes Déjà-vu-Gefühl verspürte oder ahnte, dass ihr Zeitgefühl sie irgendwie im Stich ließ. Als
     sie fünfzehn war, verlor sie ihre Mutter. Ein Lkw überschlug sich auf nasser Straße, es kam zu einem schicksalhaften Zusammenprall.
     Nitas Welt zerbrach in tausend Stücke. Sie fühlte sich verloren und vor Kummer wie gelähmt. Sie wäre beinahe zugrunde gegangen,
     und ihr lieber, guter Vater war zu sehr in seiner eigenen Trauer gefangen, um sie unterstützen zu können. In jener Zeit hatte
     sie ihre ersten richtigen »Episoden«, wie sie sie bezeichnete, gehabt – in der Schule oder in ihrem Zimmer verlor sie sich
     ihrem Gefühl nach stundenlang in ihren Gedanken, doch |165| wenn sie wieder zu sich kam, stellte sich heraus, das keinerlei Zeit vergangen war. Sie schrieb diese Erlebnisse ihrem allgemeinen
     Gefühlschaos zu, ihrem Kummer, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung. »Ich dachte eben, ich hätte sowieso den Kontakt zu meiner Umgebung
     verloren …«
    Ihr Vater schenkte ihr – womöglich als Ausgleich für sein eigenes Versagen – einen Hund, einen kleinen Jack Russel. Sie nannte
     ihn »Rosti«, nach der Farbe seiner Fellflecken. Das verspielte Tierchen eroberte bald ihr Herz. Es wurde ihr Anker in der
     Wirklichkeit, ihr fester Boden unter den Füßen, auf dem sie wieder in die geordnete Normalität zurückfinden konnte. Sie liebte
     ihn über alles.
    Sie war sechzehn, als es geschah. Sie spielte mit dem Hund im Vorgarten, als ein lärmender Müllwagen vorbeikam, der auf den
     Terrier einen

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